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Abbreviations (PDF)
Bote & Bock
Der Titel Namo kommt aus dem Sanskrit und bedeutet Gruß oder Begrüßung. Er ist abgeleitet von Gebeten des Mahayana-Buddismus, die als Textgrundlage frei verwendet wurden: Saddharmapundarika, Mahayanasutrasamgraha, Sadhanamala. Die drei Soprane schlagen wie buddhistische Nonnen oder wie die Schamaninnen der ostasiatischen Mischreligion während der „Liturgie“ Trommeln. Diese Kombination von Singstimme und Instrument und der im Laufe des Werkes sich zur Ekstase steigernde Vortrag sind die einzigen an fernöstliche Vorbilder anknüpfenden musikalischen Elemente der Komposition. Sie ist sonst völlig frei gestaltet.
Das Werk besteht aus vier Abschnitten aus je fünf bis sieben Teilen, die sich aus der Gliederung des Textes ergeben. Die Teile sind durch rein instrumentale Einschübe, vor allem Schlagzeugakzente, verbunden. Innerhalb der Abschnitte bilden die drei parallel geführten Singstimmen und die Instrumentengruppen wie Holz, Blech, Schlagzeug, tiefe Streicher eng zusammengehörende Tongruppen in Form von Haltetönen, sogenannte Haupttöne. Diese Haupttöne wirken als Einheiten, obwohl sie ihre innere Struktur ständig durch Austausch der Stimmen, Umspielungen, Glissandi, Vor-, Nach- und Zwischenschläge verändern.
Mit der Niederschrift der Dimensionen begann Yun – so sein Freund, Verleger und Librettist Harald Kunz – Mitte Juli, und er beendete die Arbeit an der Partitur am 21. September 1971 in Groß-Glienicke bei Berlin. Noch vor den Dimensionen, ebenfalls parallel zur Oper, wurde die Partitur von Namo für drei Soprane und großes Orchester in Berlin am 16. März 1971 abgeschlossen. Wenig später folgte die Uraufführung im Großen Sendesaal des SFB.
Dieter Eikemeier und Mirella Lingorska äußern sich zum Text von Namo (in: Ssi-ol. Almanach 2002/03 der Internationalen Isang Yun Gesellschaft): „Der kurze Text ... verbindet in eklektischer Weise Grußformeln, heilige Sprüche (mantra) und kanonische Lehrsätze (sñtra), letztere allerdings in einer gegenüber den kanonischen Texten leicht abgeänderten Form. Die textuellen Bezüge gehen auf verschiedene Entwicklungsstufen des Buddhismus zurück." Die Zusammenfügung dieser unterschiedlichen Texte spannt „einen großen Bogen buddhistischer Bildlichkeit über mehrere Epochen und Kulturen, ohne jedoch chronologisch aufgebaut zu sein und auch ohne dogmatisch zu wirken."
In Namo gestaltet Yun aus unscheinbaren Anfängen eine sich allmählich spiralartig steigernde Atmosphäre, die bis zu ekstatischer Entrückung reicht und zum Teil auch in der Oper Sim Tjong eine Rolle spielt. Sein besonderes Augenmerk richtete Yun auf die Formulierung der drei wie ein heterophones Klangband aufeinander bezogenen Singstimmen. Die Ausführung dieser eng verzahnten Partien erfordert virtuos-versierte hohe Soprane, deren Stimmcharakteristik auch klangfarblich harmoniert. (Später, für eine Aufführung in Münster 1976, schrieb er dann eine Neufassung des Vokalparts für nur einen Sopran.)
Auffällig bei der Konzeption von Namo ist auf den ersten Blick der Synkretismus: Drei Sängerinnen stellen Schamaninnen dar, die sich mit buddhistischen Grußformeln, heiligen Sprüchen und kanonischen Lehrsätzen in Ekstase singen. (Schamanismus und Buddhismus bilden in Asien keine unüberbrückbaren Gegensätze.) Jede der Sängerinnen schlägt dabei eine Trommel (möglichst in verschiedenen Größen); üblich geworden sind hier chwago-Trommeln, ein sino-koreanisches Instrument, das in der Königlichen Ahnenmusik, der Konfuzianischen Schreinmusik, gelegentlich aber auch in buddhistischen Zeremonien eine Rolle spielt. Begleitet werden die Sängerinnen von einem groß besetzten europäischen Symphonieorchester ohne Violinen, doch mit einem ungewöhnlich umfangreichen Arsenal an Schlaginstrumenten, zu dessen Betätigung mindestens sechs Spieler erforderlich sind. Das synkretistische Konzept hat ästhetisch den Vorzug einer höchst originellen Konzeption, bei deren Realisierung Yun alle Gegensätze in seinem individuellen Personalstil unaufhebbar verschmolz.
Zentral ist die sorgfältige Vertonung des buddhistischen Textes. Aus esoterischer Sicht bedeutet schon die Eingangsformel „(om) namo buddhªya" keinesfalls „Gruß an Buddha!", sondern „Werde eins mit Buddha!" und für den Meditierenden sogar „Sei Buddha!" Der Text kann in die fünf Abschnitte A B C D und E gegliedert werden, wobei die Zäsuren jeweils nach den Zeilen 3, 6, 12 und 16 liegen. (Wenn Yun selber von nur vier Abschnitten spricht, hat er vermutlich die ersten beiden als Einheit betrachtet.) Nach einer dunklen instrumentalen Einleitung (u. a. Bassklarinette) setzt die Vertonung relativ langsam und leise in tiefer Lage ein; die Textzeilen setzt Yun durch Schellen und anderes helles Metallschlagwerk voneinander ab. Im zweiten Abschnitt, den die Oboe einleitet, steigert Yun die dramatische Spannung zu einem ersten Höhepunkt: „jinam vandamo" [den Sieger grüßen wir]).
Nach einem kraftvollen Zwischenspiel wirken die wesentlich umfangreicheren Abschnitte C und D (oder: A’ und B’) wie ein Neubeginn auf erweiterter Stufenleiter. Der Ruhe der respektvoll im Sprechgesang vorgetragenen Grußformeln schlägt mit der Anrede an Avalokiteívara [Wahrnehmer der Schreie der Welt], den Bodhisattva des grenzenlosen Erbarmens und Mitempfindens, und an die Göttin der vollkommenen Weisheit Prajñapaamita dramatisch um in hohe und höchste Lagen. Abschnitt D ist mit fast sechs (von insgesamt zwanzig) Minuten Spieldauer der ausgedehnteste und auch intensivste. Sein Text „ye dharm ahetuprabhava ..." [Von allem, was einen Ursprung hat, hat der Tathagata den Anfang erklärt, hat er erklärt auch ihr Ende. Das ist die Lehre ...] bringt, wie Dieter Eikemeier und Mirella Lingorska mitteilen, mit der bedeutendsten und wohl auch ältesten Schicht zugleich auch den Verweis auf Ursprung und Ende alles Leidens. Als Rückführung aus äußerster Erregung und extremen Lagen fungiert der letzte Abschnitt des buddhistischen Vokalwerks.
Walter-Wolfgang Sparrer (2004)
Dorothy Dorow, Maria de Francesca, Slavka Taskova (sopranos) / Radio-Symphonie-Orchester Berlin / Michael Gielen
Internationale Isang Yun Gesellschaft IYG 003