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Die Musik von Galina Ustwolskaja

Die russische Komponistin Galina Ustwolskaja, in Petrograd / St. Petersburg am 17. Juni 1919 geboren und am 17. Dezember 2006 gestorben, studierte von 1937 bis 1939 an der Musikfachschule in Leningrad und bis 1947 am Rimski-Korssakow-Konservatorium. Hier erhielt sie anschließend eine Aspirantur und leitete von 1947 bis 1977 eine Kompositionsklasse an der Fachschule. Ihr Kompositionslehrer Dmitri Schostakowitsch, der selten lobende Worte für seine Schüler fand, äußerte sich über sie: „Ich bin überzeugt, dass die Musik G. I. Ustwolskajas weltweite Anerkennung finden wird bei allen, die der Wahrhaftigkeit in der Musik entscheidende Bedeutung beimessen.“ Mehrfach setzte er sich gegen den Widerstand seiner Kollegen im Komponistenverband für sie ein. Eigene Werke schickte er noch in der Entstehungsphase an Ustwolskaja und legte großen Wert auf ihr Urteil. In einigen dieser Werke finden sich sogar Zitate aus Kompositionen seiner Schülerin: So verwandte er das zweite Finalthema) ihres Klarinettentrios im gesamten 5. Streichquartett und in der Michelangelo-Suite (Nr. 9). Das innige geistig-künstlerische Verhältnis zwischen beiden Komponisten ähnelte dem zwischen Schönberg und Webern.

Die Musik Galina Ustwolskajas ist nicht „avantgardistisch“ im landläufigen Sinne und entging wahrscheinlich deshalb einer offenen Verurteilung in der UdSSR; man warf der Komponistin jedoch neben mangelnder Kommunikationsbereitschaft „Dichte“ und „Hartnäckigkeit“ vor. Erst in den letzten Jahren begannen ihre Kritiker zu begreifen, daß diese vermeintlichen Mängel gerade die besonderen Qualitäten dieser Musik ausmachen. Der Komponist Boris Tischtschenko verglich die „Dichte“ ihres Stil mit dem gebündelten Licht des Laserstrahls, der in der Lage ist, Metall zu durchdringen.

Ustwolskajas Werke aus den 40er und 50er Jahren klingen mitunter so, als seien sie heute entstanden. In ihrer kompromisslosen Treue gegenüber sich selbst und ihrem musikalischen Credo gleicht sie einer einsamen Felseninsel im Meer der verschiedenen kompositorischen Strömungen des 20. Jahrhunderts. Eine derartige Selbstgenügsamkeit und stilistisch-ästhetische Abgeschlossenheit dürfte in der Musik unserer Zeit wohl ihresgleichen suchen. Ihr spezifischer, von geradezu fanatischer Konsequenz geprägter Idealismus ist nicht nur typisch russisch, sondern – im Sinne Dostojewskis – als „St. Petersburgisch“ zu verstehen. Unter Schostakowitschs Schülern war Ustwolskaja offensichtlich die einzige, die imstande war, die zweite kosmische Geschwindigkeit zu erreichen, um das Gravitationsfeld eines „Riesenplaneten“ wie Schostakowitsch zu überwinden. Dieser schrieb ihr: „Nicht Du stehst unter meinem Einfluss, sondern ich unter Deinem.“ Ustwolskaja wird zitiert – sie zitiert niemanden.

Alle ihre Kompositionen sind großräumig gedacht, unabhängig von ihrer tatsächlichen zeitlichen Ausdehnung oder dem Umfang ihrer Besetzung: „Meine Musik ist in keinem Falle Kammermusik, auch dann nicht, wenn es sich um eine Solosonate handelt!“ Mit der Dimension der Zeit geht die Komponistin zuweilen so unkonventionell um, als gehöre sie zu den Vertretern der Minimal Music. Ein solcher Vergleich ist aber insofern unzutreffend, als Ustwolskajas Musik in hohem Grade auf Spannung und Dichte ausgelegt ist. Ihre spannungsgeladenen Pausen stehen in nichts jenen bei Anton Webern nach. In der Regel schreibt sie eine asketische Musik, im Notenbild fehlen Taktstriche, was jedoch nicht etwa Indifferenz oder Anämie bedeutet, sondern im Gegenteil erstaunliche asymmetrische polyphone Konstruktionen hervorbringt, von unerhörter rhythmischer Kraft getragen. Dynamische Entwicklungen sind fast auf reine Terrassendynamik reduziert, wobei jähe Kontraste zwischen ppppp und fffff auftreten. Ustwolskajas Neigung zu Extremen äußert sich aber nicht nur in der Dynamik, sondern ebenso in der Wahl einmaliger Besetzungen (Komposition Nr. 1-3, 3. und 4. Sinfonie). Die von ihr vertonten Texte sind aphoristisch und konzentriert.

In Galina Ustwolskajas Musik sucht man vergeblich nach Zügen, die gemeinhin unter „feminin“ verstanden werden. Einige ihrer Kompositionen sind geistlich geprägt, was sich auch in Titeln oder gesungenen liturgischen Formeln manifestiert. Ihre Botschaft kündet von einem strengen, unabhängigen Geist und unerbittlichem Willen: eine Stimme aus dem „Schwarzen Loch“ Leningrad, dem Epizentrum des kommunistischen Terrors und der durch Kriegsleiden so furchtbar heimgesuchten Stadt.

Viktor Suslin

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