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Eine Einführung in die Musik von Alfred Schnittke
von Gerard McBurney

Alfred Schnittke gehörte der ungewöhnlich großen Generation sowjetischer Komponist*innen an, die in den 1930er Jahren geboren wurden und als Kinder die gewaltsame politische Unterdrückung und Not des Zweiten Weltkriegs miterlebten, dann aber in der vergleichsweise freieren post-stalinistischen Tauwetter-Periode zwischen Mitte der 1950er und 1960er Jahre persönliche und künstlerische Reife erlangten. Das politische Sagen hatte damals der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei (der politischen Machthaberin in der Sowjetunion) und Stalins Nachfolger: Nikita Chruschtschow, eine komplexe und widersprüchliche Persönlichkeit. Trotz Chruschtschows häufiger antiliberaler Ausbrüche setzte im kulturellen Leben eine gewisse Lockerung ein, im Zuge derer zuvor verborgene Kunstwerke (Literatur, Musik, Filme) an die Öffentlichkeit gelangten, verstärkt Kontakt zum Westen und zu anderen Einflüssen gesucht wurde und sich Möglichkeiten für Experimente und Neuerungen ergaben, die von den künstlerischen und intellektuellen Kreisen des Landes ausgingen. Schnittke selbst bezeichnete diese Zeit später mit dem für ihn typischen Understatement als „Zeit der Möglichkeiten“.

Natürlich war es für junge Künstlerinnen in dieser Situation nicht nur in politischer, sondern auch in kreativer und persönlicher Hinsicht schwierig, ihre künstlerischen Antworten auf all diese auf sie einströmenden neuen und gegensätzlichen Einflüsse entsprechend auszutarieren. Einige Komponistinnen aus Schnittkes Generation machten sich selbst zu Epigonen von Schönberg und Webern, John Cage oder Stockhausen. Andere wiederum besannen sich auf ihre tiefen und lange unterdrückten nationalistischen und traditionalistischen Wurzeln – insbesondere jene, die mit dem orthodoxen Christentum in Verbindung gebracht werden.

Schnittkes kreative Reise enthielt Elemente dieser verschiedenen Ansätze, verlief jedoch anders. Dies war zum Teil durch seine Herkunft bedingt. Sein Vater war russisch-jüdischer Abstammung, wurde aber in Frankfurt geboren und wuchs dort auch auf, bis er mit seiner Familie 1927 in die Sowjetunion zurückkehrte. Aus sowjetischer Sicht war er also ein „Ausländer“. Schnittkes Mutter hingegen gehörte der alten deutschen Minderheit in Russland an, die sich auf Einladung von Zarin Katharina der Großen im 18. Jahrhundert an der Wolga angesiedelt hatte. Im Hause Schnittke wurde Deutsch gesprochen (das, wie Schnittke selbst ironisch lächelnd anmerkte, vergessene Redewendungen aus alten Zeiten enthielt). Ebenfalls präsent war die Religion, was zur damaligen Zeit kompliziert war: Schnittkes Großmutter mütterlicherseits, die bei seiner Erziehung eine wichtige Rolle spielte, hatte ihren katholischen Glauben behalten, der bei dem Jungen großen Eindruck hinterließ. Und dann nahm sein Vater kurz nach Kriegsende eine Stelle als Journalist im sowjetisch besetzten Wien an, sodass die Familie nun in einer deutschsprachigen Stadt lebte – der Heimat vieler Komponist*innen aus der Zeit der Klassik und danach, in der ein völlig anderes Musikleben herrschte als in der Sowjetunion. Hier machte Schnittke Erfahrungen, die für die meisten jungen Sowjets seines Alters unvorstellbar waren.
Aufgrund all dessen fühlte Schnittke sich in seinem russischsprachigen sowjetischen Umfeld mit seinen schweren, unterdrückenden und oft rassisch begründeten Überzeugungen nach eigenem Bekunden häufig als Außenseiter. In seinen späteren Jahren sagte er in diesem Zusammenhang selbst einmal, dass er viele Jahre seines Lebens auf der Suche nach einer Heimat gewesen sei.

Wie zunächst zu erwarten war, klingen Schnittkes früheste Kompositionen ziemlich „sowjetisch“. Sie sind in der damals verfügbaren musikalischen Sprache geschrieben, einer Mischung aus à la russe und Sozialistischem Realismus, gewürzt mit gewagteren Elementen von Prokofjew und Schostakowitsch. Doch bald schon vernahm der junge Komponist das Flüstern anderer Welten. Als 1956 das Festival „Warschauer Herbst“ gegründet wurde, erreichten die Aufnahmen und Übertragungen der Konzerte auch sowjetische Ohren. Es erklangen neue Werke aufregender junger polnischer Zeitgenossinnen – Lutoslawski, Górecki, Penderecki und aller anderen – und nach wenigen Spielzeiten auch die Musik junger „westlicher“ Komponistinnen der sogenannten Avantgarde. Hin und wieder kam auch exotischer Besuch nach Moskau und Leningrad, der gelegentlich Partituren oder Aufnahmen mitbrachte oder selbst auftrat: Glenn Gould 1957 mit neuer Musik von Schönberg, Berg, Webern und anderen, Luigi Nono mit etlichen Werken seiner Darmstädter Kolleg*innen, Boulez mit dem BBC Symphony Orchestra und – symbolisch am bedeutendsten – Strawinsky, der 1962 in sein Heimatland zurückkehrte.

Angesichts dieser Flut neuer Eindrücke änderten sich natürlich allmählich auch Schnittkes Interessen, und so vermittelt die Musik seiner frühen Jahre als reiferer Komponist den Eindruck von einem leidenschaftlichen, hungrigen jungen Mann, der so viel wie möglich ausprobieren möchte. In seiner Musik finden sich nun etliche Gerätschaften und Tricks wider, die zur damaligen Zeit populär waren, und die er auf verschiedene Art und Weise miteinander kombiniert: Zwölftonreihen, neotonale Gesten, Elemente des „totalen Serialismus“, die vor nicht allzu langer Zeit schwer in Mode gewesen waren, Heterophonie nach polnischer und ungarischer Art, Zitate, Kollagen, Kitsch und Parodien, religiöser Symbolismus, besondere Effekte bei der Instrumentierung und ungewöhnliche Instrumente, Synthesizer und Klangfilter, Tonbandgeräte und sogar elektronische Musik (mit freundlicher Genehmigung des ASM-Studios in Moskau).

Am beeindruckendsten an Schnittkes damaliger Kreativität ist, dass seine Werke trotz des Lärms und Durcheinanders seiner kaleidoskopartigen Begeisterung erstaunlich schlüssig klingen. Offenbar besaß er bereits damals eine ausgeglichene innere Stimme, die bewirkte, dass er alles, was er von außen aufnahm, schnell in etwas Eigenes umwandelte.

Dies lag zum Teil daran, dass er die Technik fließend beherrschte. Wie viele sowjetische Komponistinnen der damaligen Zeit bestritt er seinen Lebensunterhalt größtenteils in der Filmindustrie, für die er Partituren zu Filmen aller Art schrieb. Hier lernte er, schnell und pragmatisch zu arbeiten, und konnte verschiedenste Dinge ausprobieren. Die sowjetische Filmbranche wurde nicht von denselben Behörden überwacht wie der Komponistenverband, sodass die Filmmusik weniger stark unter politischer und ideologischer Aufsicht stand. Den Produzentinnen und Regisseur*innen war offenbar hauptsächlich daran gelegen, dass die von ihnen in Auftrag gegebene Musik eine dramatische und atmosphärische Wirkung erzielte.
Für Schnittkes Vision spielte seine Faszination für seine deutschen Wurzeln definitiv eine große Rolle. Er verschlang deutsche Literatur – Thomas Mann, Kafka u. a. –, stand aber auch sehr unter dem Einfluss von deutscher Musik und deutschem Klang und, vielleicht noch wichtiger, den grundlegenden klanglichen Werten der deutschen und insbesondere der Wiener Musik: von Beethoven über Schumann, Brahms, Bruckner und Mahler bis hin zu Schönberg, Berg und Webern. Diese Tradition kam ihm schnell wie eine Art „Heimat“ vor, die sich sehr stark von der russisch-sowjetischen Kost unterschied, die das ihm bekannte Moskauer Konzertleben dominierte.

Zugleich war vieles in der russischen und sowjetischen Musik prägend für seine Entwicklung. Wie die meisten in der Sowjetunion ausgebildeten jungen Musikerinnen wurde Schnittke stark beeinflusst von den verschiedenen modalen und symbolischen Traditionen der Musikvermittlung und -lehre, die bis ins Russland des 19. Jahrhunderts und zu Persönlichkeiten wie Glinka, Mussorgski und Rimski-Korsakow zurückreichten. Zudem wurde er zutiefst und schwer beeinflusst von Schostakowitsch, der damals übermächtigen Stimme der sowjetischen Musik, der dem jungen Schnittke – wie vielen seiner Zeitgenossinnen – (ästhetisch und politisch) zwiespältig erschien: Er musste respektiert und bewundert, aber auch mit Vorsicht und Zurückhaltung behandelt werden und stieß mitunter regelrecht auf Ablehnung.

Schnittkes berufliche Anfänge erreichten ihren ersten Höhepunkt mit einem seiner größten Erfolge: der Ersten Symphonie von 1972. In diesem beeindruckenden Werk vereint er alles, was er bisher gelernt – und auch komponiert – hatte, in einer gigantischen Zirkusshow aus Film- und Konzertmusik, Alter und Neuer Musik, indem er das Triviale und Gewöhnliche neben das Grandiose, das Geliehene und Gestohlene neben das völlig Neue, die Komödie und Absurdität unmittelbar neben die Tragödie stellt. In der Partitur finden sich Elemente des Theaters und der Freiheit sowie eine wichtige Jazz-Passage, in der die Musikerinnen völlig frei improvisieren können, während die Musik zugleich auf wundersame Weise durch eine verborgene, fast göttliche innere architektonische Struktur fest zusammengehalten wird.
Natürlich kam es zu einem Skandal, als die Symphonie 1974 uraufgeführt wurde – diskret und weit weg vom Moskauer Publikum und der Aufmerksamkeit aus dem Ausland, in der geschlossenen Stadt Gorki (die heute wieder ihren ursprünglichen Namen Nischni Nowgorod trägt). Die Nomenklatura des Komponistenverbands zeigte sich besonders verärgert und feindselig, da mit der bloßen Existenz dieses Werks ihre Autorität infrage gestellt wurde. Doch für jüngere sowjetische Komponist
innen, die zum Teil von sehr weit angereist waren, um der Uraufführung beiwohnen zu können, war diese Musik wie ein Aufruf zum Kampf. In Anspielung auf Solschenizyns berühmten Roman berichtete Viktor Suslin von der Uraufführung, „dass Schnittkes Symphonie für unsere Generation wie Der Archipel Gulag in der Musik war.“

Für Schnittke selbst war dieses Werk zweifellos ebenfalls von Bedeutung, da es quasi das Ende einer Ära darstellte, eine Zusammenfassung alles bisher Erreichten, eine Art Durchbruch zu etwas Neuem. Denn gedanklich bewegte er sich bereits in ganz anderen Sphären. Und ein Aspekt davon war seine immer engere Verbindung zu bestimmten wichtigen Interpret*innen. Eine entscheidende Rolle spielte hier der Geiger Gidon Kremer. Dieser erwarb sich bereits kurz nach seinem ersten Auftritt im Westen im Jahr 1970 den Ruf, einer der größten Geiger seiner Zeit zu sein. Und auf seine Reisen um den Globus nahm er fortan die Musik seines liebsten zeitgenössischen sowjetischen Komponisten mit.

Dank Kremers Pionierarbeit komponierten Schnittke und seine Zeitgenossinnen nun immer öfter für bestimmte Interpretinnen: nicht nur für Kremer, sondern auch für Natalia Gutman und ihren Ehemann Oleg Kagan, etwas später dann für Mstislaw Rostropowitsch und viele weitere einflussreiche Persönlichkeiten und immer häufiger auch für verschiedene Orchester und Dirigentinnen weltweit, vor allem im damals sogenannten Westen. Für Schnittke bedeutete dies, dass die Kraft seiner Musik, die rasch ein immer größeres Publikum anzog, eng mit denjenigen verknüpft war, die sie spielten. Und je nachdem, um wen es sich dabei handelte, bestand somit auch eine enge Verbindung zur allgemeinen Sprachgewalt der internationalen Kulturpolitik in den letzten Jahren des Kalten Krieges. Anders ausgedrückt, wurde seine Musik selbst zu einer Form von Politdrama auf der Weltbühne, was etlichen seiner sowjetischen Zeitgenossinnen – neben Komponistinnen auch Schriftstellerinnen, Theatermacherinnen und Filmemacherinnen – ebenfalls widerfuhr.

1985 brachten ein Schlaganfall, der Schnittke fast das Leben gekostet hätte, und weitere katastrophale gesundheitliche Beeinträchtigungen einschneidende Veränderungen mit sich.

Dass diese persönliche Katastrophe sich auf den Klang seiner Musik auswirkte, fand Schnittke selbst äußerst faszinierend, sodass er in seinem Freundeskreis oft darüber sprach. Seine – wie er selbst sie nannte – leichte Berührung mit dem Tod und einige weitere Berührungen dieser Art hatten ihn gezwungen, ganz neu über die Musik nachzudenken. Er lebte mittlerweile in Hamburg, wurde weltweit aufgeführt und komponierte viel flüssiger als je zuvor. Bis zu seinem Tod im Jahr 1998 strömten die Symphonien, Konzerte, Opern, Ballette und kammermusikalischen Werke geradezu aus ihm heraus. Doch die Sprache seiner Musik war nun eine andere.

Er selbst formulierte es so: Früher musste ich mich sorgfältig vorbereiten, wenn ich komponieren wollte, das Fundament legen und mir die Techniken, die ich verwenden wollte, genauestens überlegen. Seit meiner Krankheit besteht meine Aufgabe nur mehr darin, dem, was ich höre, möglichst genau zuzuhören. Und das, was ich höre, höre ich mit einer Klarheit, die ich vorher nicht hatte. Und das, was ich höre, schreibe ich auf.

Wenn man sich seine oft äußerst bewegenden letzten Werke anhört, sieht man einen Mann am Ende einer langen Reise, der sich oft damit zufrieden gibt, dass seine Musik in einer einzelnen wandernden Linie zusammengefasst wird, selbst in einem Werk für großes Orchester, in dem einzelne Instrumente fast wie Spinnfäden in der Luft schweben oder sich auf eine einzige, obsessiv wiederholte Idee einschießen. Schnittke ging es darum, die Musik die Arbeit machen zu lassen, und nicht zu versuchen, sie in Richtungen zu lenken, die sie nicht einschlagen wollte.
Vielleicht ist genau aus diesem Grund so viel Musik seiner letzten Jahre mit Leere und Stille gefüllt. Denn wie sagte er selbst sehr treffend über eine seiner letzten Symphonien?
„Für mich bei diesem Stück am wichtigsten... sind die Pausen.“

© Gerard McBurney, 2022
(Komponist, Orchestrator, Schriftsteller, Sprecher, Erfinder, Rekonstrukteur verlorener und vergessener Werke von Schostakowitsch)

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