Boosey & Hawkes
Meine Partita – Hommage à Bernd Alois Zimmermann – ist nach den zwöftönigen Fünf Stücken für Klavier (1964), der seriell orientierten Diaphonie für 2 Klaviere (1965), den beiden Klaviersonaten (1968 und 1986) und den beiden Klavierkonzerten (1984 und 1990/91) meine siebte Komposition für Klavier, das Instrument, mit dem ich mich in meiner musikalischen Existenz auch heute noch tiefer verbunden fühle als mit Synthesizer und Sampler. Warum? Eine Antwort scheint nahe liegend: aus Verwurzelung in jener großen, von Bach bis Boulez reichenden und eng mit dem Klavier verbundenen, europäischen Musiktradition. Diese Antwort wäre nicht ganz falsch, würde aber nur vordergründig die Intentionen eines Komponisten wiedergeben, der jahrzehntelang auf dem Gebiet der elektronischen und Computermusik gearbeitet und zahllose Klänge und Geräusche jenseits der temperierten 12-Ton-Skala und harmonischen Spektren verwendet hat. Aber ich habe diese neuartigen Klänge und Geräusche von Anfang an nie um des Selbstzwecks willen erfunden und ausgearbeitet, sondern stets mit Hinsicht auf den musikalischen Zusammenhan, mit anderen Worten: die Form (oder Klanggestalt).
Hier nähern wir uns meinem kompositorischen Credo: Es besteht u. a. in der Überzeugung, dass die Suche nach neuen Klangeffekten und Spieltechniken im Bereich der Instrumentalmusik mehr und mehr zu akustisch austauschbaren Ergebnissen führt. Es zeichnet sich – z. B. auch in der modernen Physik – immer deutlicher ab, dass das Stofflich-Materielle, also Quantifizierbare, zunehmend an Bedeutung verliert, während ein Denken in spirituell-energetischen, also qualitativen Kategorien, an Boden gewinnt. Diesem Denken habe ich in der Partita auf folgende Weise Ausdruck zu verleihen versucht: Sie beruht auf einer 23-tönigen, spiralförmig offenen "Klanggestalt" (nicht "Reihe"), deren Intervallik und immanente Harmonik (4 Akkorde aus je 2, 4, 7 und 10 Tönen) die melodisch-harmonische Struktur des Stückes bestimmt. Durch Übertragung der Intervallverhältnisse auf die Zeit ergeben sich "Zeitgestalten" (Taktanordnungen), welche die unterschiedlichen metrischen Verläufe in den 6 Stücken auf charakteristische Weise hervorrufen. Die Titel der einzelnen Stücke wie auch der des ganzen Zyklus scheinen zwar auf barocke Vorbilder zu verweisen, zielen jedoch auf formale Archetypen, die kurz beschrieben werden sollen:
I. Preludio: Intonation, Umspielung und wechselnde Beleuchtung des "Zeugungstons" D.
II. Fuga polimetrica: Ein streng aufeinander bezogenes Gefüge aus Klanggestalt und Zeitgestalt erscheint hier asynchron, d.h. im zweiten gegenüber dem ersten Klavier um sechs Takte verschoben.
III. Fantasia I: Aus einem 23-tönigen Akkord (der vollständig ins Vertikale projizierten Klanggestalt) entwickelt sich eine Art "Improvisation" über einzelne Abschnitte der Klanggestalt, bzw. deren intervallischer Stauchung.
IV. Conductus: Über dem Ostinato-artig wiederholten Rücklauf der Klanggestalt in starrem Gleichmaß türmen sich mehrere rhythmisch unabhängige Schichten zu einer komplexen Polyphonie.
V. Fantasia II: Aus den weiträumig auseinander gezogenen Anfangstönen der Klanggestalt entwickeln sich zarte Linien und ihre "Schatten".
VI. Gigue: In rasendem Tempo repetierte, quasi "getrommelte" Triolen-Figuren eröffnen einen aberwitzigen "Pas de deux". Er mündet etwa in der Mitte in ein Zitat des Anfangs von "Général Lavine- eccentric ...", jenes skurrilen Stücks aus den "Préludes", das Claude Debussy, fasziniert von einem Auftritt des Star-Tänzers Lavine in den Folies Marigny, komponierte.
Die Partita ist dem Geist Johann Sebastian Bachs und Claude Debussys verpflichtet, einem Geist, dessen Polaritäten zu verschmelzen und zu transformieren mich Bernd Alois Zimmermann stets ermunterte. Das Werk ist Franz Xaver Ohnesorg gewidmet, der es für das Klavierfestival Ruhr bei mir in Auftrag gab, wo es am 11. August 1997 von Elena Bashkirova und Brigitte Engerer uraufgeführt wurde.
"Die Partita ist eine Art Suite in sechs Abschnitten, ‘dem Geiste Bachs und Debussys verpflichtet’, wie Höller im Programmheft schreibt. Sein Spiel mit Akkorden und Metren ist indes weniger Bachscher Strenge denn Debussys Klangwelt verpflichtet, wenngleich er es mit den impressionistischen Stimmungen nicht übertreibt.
Vom Grundton d ausgehend, der zunächst zart repetiert wird, was wie ein Glöckchenklang anmutet, dann mit Umspielungen versehen, gestaltet Höller seine Strukturen. Nach und nach werden Harmonik und Metrik komplexer, erklingt eine erregte Fuge oder ein sinnliche Fantasia, erzeugt duch gebrochene Akkorde in mittlerer und hoher Lage. Starke dramaturgische Gestalt ist der abschließenden Gigue zu eigen, ein Presto-Satz mit mächtiger Motorik.
Da legen sich die Damen reichlich ins Zeug, spüren bei aller genauen Konstruktion dieses Werks den Klängen nach, dem rhythmischen Puls dieser Musik, ihren harmonischen Feinheiten."
(Martin Schrahn, Ruhr Nachrichten, 13.08.1997)
„Für das Publikum war die Partitavon York Höller beim Klavier-Festival Ruhr eine schöne Sache. Der Komponist erhielt so viel Applaus, daß die Pianistinnen Elena Bashkirowa und Brigitte Engerer gleich zwei von sechs Sätzen wiederholen mußten. Ein wahrhaft seltener Erfolg für ein zeitgenössisches Werk."
(Gregor Willmes, Westdeutsche Allgemeine Zeitung Essen, 13.08.1997)
Kristi Becker / Pi-hsien Chen
CPO 999 954-2 (2003)