Konzert für Klavier und Orchester Nr.1
(Concerto for Piano and Orchestra No.1) op. 27 (1994)2(II=picc).2(II=corA).2(II=bcl).2(II=dbn)-2.2.1.1-timp.perc(5):SD/TD/3tom-t/BD/daiko/4wdbl/wood dr/whip/tgl/2susp.cym(sm,lg)/cym/anvil/plate gong/2tam-t(sm,lg)/ratchet/flexatone/wind machine/crot/glsp/xyl/vib/t.bells/2lo gongs/dr kit(BD/susp.cym/wdbl)-harp-cel-strings(alternatively 12.10.8.6.4 or 6.5.4.3.2)
Abbreviations (PDF)
Bote & Bock
„Es hat mal jemand behauptet, die Musik ließe sich unterscheiden in Kopf-, Herz- und Bauchmusik. Darf ich in Anspruch nehmen, alle drei zu wollen ?“ Detlev Glanert
Detlev Glanerts erstes Klavierkonzert besteht aus acht Sätzen, die zu einer dreiteiligen Großform zusammengefasst werden können:
Einleitung (Prélude) und erster Satz,
bestehend aus einer „Tanzsuite“
(Ragtime, Moresca, Follia und Jitterbug)
Langsamer Satz (Nachtlied)
Finale (Nemesis und Aubade)
Den einzelnen Sätzen hat Glanert sogenannte Zwischenspiele für das Soloklavier vorangestellt. Diese Zwischenspiele haben die Funktion von Kadenzen und Überleitungen. Im Prélude werden die thematisch-motivischen Keimzellen exponiert, auf die das gesamte Klavierkonzert aufgebaut ist: Die kleine und große Sekunde, Quarte und Tritonus. Dazu kommt ein Schlüsselakkord, der im Verlaufe des Werkes gewissermaßen als Relais dient, und der den tonalen Dualismus des Werkes determiniert: h–d –f–b. Dieser Akkord, nennen wir ihn Relaisklang, lässt sich nach c-Moll und Es-Dur hin auflösen. Zwei Tonarten, die an formalen Schnittpunkten immer wiederkehren. Dieser Relaisklang enthält weiterhin das „genetische Material“ für die vor allem in den Tanzsätzen verwendeten Ganztonskalen, aus denen sich wiederum die übermäßigen Akkorde der Moresca ableiten, und last but not least gehen die repetitiven Skalen in Es-Lydisch im Finale auf die Tritonus-Spannung des Relaisklanges zurück. Die Schlüsselintervalle werden so melodisch wie harmonisch verarbeitet. Hierfür noch ein für das Klavierkonzert typisches Beispiel: Die regelmäßig wiederkehrenden c-Moll-Klänge sind stets mit einem phrygischen Vorhalt (des) angereichert. War von Schlüsselintervallen die Rede, so kann auch von Schlüsselrhythmen gesprochen werden, die im Prélude exponiert werden. Zum einen sind es Punktierungen, zum anderen Synkopen, die sich mal augmentiert, mal diminuiert wie ein roter Faden durch das Werk ziehen. Aus diesem kargen, aber ausdrucksstarken Ausgangsmaterial entwickelt sich das musikalische Universum des Klavierkonzertes, wobei traditionelle Kompositionstechniken auf das Virtuoseste angewendet werden: Das klassische Prinzip der kontrastierenden Ableitung, Motivabspaltungen und Sequenzbildungen, kunstvoller Polyphonie bis hin zu Fugato, polytonalen Akkordverbindungen und leitmotivischen Hörmarken. Wie in seinen vorangehenden Werken will Glanert in seinem ersten Klavierkonzert Szenarien darstellen, die Erinnerungen in uns wachrufen. Das Konzert, so der Komponist, könne als Oper für Klavier und Orchester verstanden werden. Ihr fiktives „Libretto“ kreist um die Auseinandersetzung des Individuums mit der Gemeinschaft: In der „Tanzsuite“ wird der Konkurrenzkampf der beiden Akteure geschildert. Besonders deutlich wird dies im polyphonen Verwirrspiel der Moresca. Den vier Tänzen (zwei barocken und zwei modernen) ist eines gemeinsam: Sie sind ursprünglich als stilisierte Tänze für Wilde oder Verrückte gedacht.
Im Nachtlied stellt sich dann eine scheinbare Harmonie zwischen Klavier und Orchester ein, die im Finale (Nemisis und Aubade) aufbricht und in einen offenen Kampf mündet. Der Ausgang bleibt unklar: Über einem polytonalen Schwebeklang erklingt in der Piccoloflöte und im Klavier noch einmal der Quartenruf, der das Konzert einleitete. Trotz der konsequenten kompositorischen Disziplin scheint es Glanert weniger um musikalische Logik bis ins letzte Detail zu gehen, sondern vielmehr um die dramatische Geste, das Sprechende in der Musik. Glanert arbeitet dabei mit Chiffren oder wie er sagt „Zeichen“, die vom Hörer identifiziert werden, ob bewusst oder unbewusst. Dazu gehören beispielsweise der Sekundschritt als Seufzer motiv, c-Moll als „heroisch kämpfende“ Tonart oder der Signalcharakter der Trompetenfanfare. Jedes dieser „Zeichen“ weckt in uns Erinnerungen und Assoziationen, lässt Bilder und Szenarien entstehen und löst eine ganze Welle von Allusionswelten aus.
Glanert setzt seine „Zeichen“ bewusst an zentralen Stellen des Werkes ein, gewissermaßen als orientierende Hörmarken, um die Dramaturgie der Handlung hörbar zu machen. Da der Komponist seine „Zeichen“ in einem musikalischen Kontext setzt, der sich durch kompositorische Stringenz und Disziplin selbst trägt, kann er sich programmatische Titel oder gar erklärende Zusätze ersparen. Der Hörer wird der Geschichte auch ohne verbale Erläuterungen folgen können.
© Daniel Finkernagel (im Programmheft der Uraufführung)
"Glanert ist ein Stück gelungen, das spontan packt, rundherum einleuchtet und überzeugt. Die halbe Stunde, die es in Anspruch nimmt, wirkt keine Minute zu lang. Nach seinen eigenen Worten will Glanert ‘Szenarien darstellen, die Erinnerungen in uns wachrufen’. Das geschieht tatsächlich. Die grotesk verfremdete, flotte ‘Tanzsuite’ des ersten Satzes, bestehend aus zwei barocken Tänzen, Ragtime und Jitterbug, läßt an den Hindemith der zwanziger Jahre denken. Der ruhig fließende, langsame Satz ‘Nachtlied’ überschrieben, weckt Assoziationen an Gustav Mahler und dessen 7. Sinfonie. Ansonsten geht es eher handfest zu. Klavier und Orchester kämpfen, daß die Funken stieben. Der Sieger bleibt ungewiß, deutlich wird indessen, daß Glanert es versteht, eine virtuos wirkungssichere Musik zu schreiben, ohne dabei billigen Effekt zu machen." (W.Sch., Berliner Morgenpost, 24.10.1994)