4(III,IV=picc).3(III=corA).3(III=bcl).3(III=dbn)-4.3.3.1-perc(5):vib/wdbl(lg)/t.bells/tom-t(lg)/maracas(hi,med,lo)/5cym(different pitches)/marimba/TD/sleigh bells/4gong(different pitches)/glsp/xyl/3tam-t(hi,med,lo)/crot/BD/SD/timp/tamb-harp-kbds(2players):pft/cel/synth(Yamaha SY77 or SY99)-strings(14.12.10.8.6)
Abbreviations (PDF)
Boosey & Hawkes
"Der Mythos ist die größte Annäherung an die absolute Wahrheit, die auf begrifflicher Ebene möglich ist." — Ananda Coomaraswanny, zit. in "Wendezeit" von Fritjof Capra
Der Titel Aura ist – nicht nur in Bezug auf dieses 1990/91 von mir komponierte Orchesterwerk – mehrdeutig. Einerseits benennt er jene geheimnisvolle, schwer zu fassende Ausstrahlung, die von bestimmten Persönlichkeiten, Ereignissen und Kunstwerken als unverwechselbar zu ihnen gehörig, ausgeht, andererseits bezieht er sich auf den antiken Mythos von der Luftnymphe Aura (griech. "Hauch").
Kaum ein Begriff ist in der ästhetischen Reflexion unseres Jahrhunderts so hin und her gewendet worden wie der der Aura. Spricht Walter Benjamin im Zusammenhang seiner Baudelaire-Exegese vom "Verlust der Aura" in der Moderne und ungefähr zur gleichen Zeit der Soziologe Max Weber von der "Entzauberung der Welt", so unternimmt der Dialektiker Th. W. Adorno in seiner "Ästhetischen Theorie" wiederum Rettungsversuche für den Begriff, und Jürgen Habermas stellt in "Mythos und Moderne" (1983) sogar fest: "Die Menschengattung hat sich also im weltgeschichtlichen Prozess der Aufklärung von den Ursprüngen immer weiter entfernt und doch vom mythischen Wiederholungszwang nicht gelöst. Die moderne, vollends rationalisierte Welt ist nur zum Scheint entzaubert."
Hier setzt mein Komponieren an, das sich entschieden als Komponieren im so genannten "Zeitalter der 2. Aufklärung" versteht, ein Schaffensprozess, dem bei aller Rationalität dennoch das Bewusstsein einbeschrieben ist, dass wesentliche Vorgänge menschlicher und kosmischer Existenz nicht verstandesmäßig erklärt werden können, sondern immer wieder neu in Form von Mythen, Gleichnissen und Symbolen veranschaulicht werden müssen.
Auch in Aura wird ein Bild entworfen. Dennoch handelt es sich nicht um Programmmusik im Sinne von Franz Liszt und Richard Strauss, sondern seine musikalische Gestalt steht vielmehr innerlich-ausdrucksmäßig als äußerlich-deskriptiv in Beziehung zu dem antiken Mythos von der Luftnymphe Aura. Er erzählt davon, dass diese Nymphe nach einer Liebesaffäre mit Dionysos, dem Gott der Ekstase, Zwillinge gebar, darüber wahnsinnig wurde, eines der Kinder tötete und auffraß, sich danach in einen Fluss stürzte und schließlich von Zeus in eine Quelle verwandelt wurde.
Das Grundmotiv dieser Erzählung spiegelt sich in meinem Stück wider: Es lebt stark aus dem Gegensatz von auratisch-zarten und dionysisch-kraftvollen, von kammermusikalisch-filigranen und komplexen Tutti-Momenten. Die verschiedenen Komplexitätsgrade wurden entsprechend der von mir entwickelten Konzeption der "Gestaltkomposition" von einer 24-tönigen "Klanggestalt" gesteuert, aus der Melodik, Harmonik, Metrik und Form des Werkes abgeleitet und somit also den Gestaltungskriterien "absoluter Musik" unterworfen sind.
Aura entstand im Auftrag des Chicago Symphony Orchestra und ist seinem Leiter Daniel Barenboim gewidmet, der die Komposition angeregt und ihre Uraufführung am 12. Oktober 1995 in Chicago dirigiert hat.
„Aura atmet Boulezsche Sensibilität und strahlt einen post-serialistischen Impressionismus aus, der weit eher der französischen als der deutschen Moderne anzugehören scheint. Der Orchestersatz ist wunderbar transparent, leuchtend, selbst wenn das ganze Orchester beteiligt ist. Und Höller verwendet seine Farbpalette mit extremem Feingefühl; Debussy hätte das delikat unaufdringliche Spiel von son et lumière bewundert. Fast alles in Aura scheint sich nur eben unter der Oberfläche zu ereignen. Melodiefragmente sprudeln in den geteilten Streichern hervor; ein geisterhafter Nebel von Holzbläsern wird von einem Messiaen-ähnlichen Schauer aus Vibraphon, Klavier und Harfe strukturiert... Ich bin voller Erwartung, dieses fesselnde neue Werk erneut zu hören, und hoffe, Barenboim wird uns hierzu möglichst bald die Gelegenheit geben."
(John von Rhein, Chicago Tribune, 13.10.1995)