Stimmen...verstummen... Symphony in twelve movements
(Stimmen . verstummen ... Sinfonie in zwölf Sätzen) (1986)4(III=picc,IV=afl).2.4(II=Ebcl,III=bcl,IV=asax).4(IV=dbn)-4.3.4.1-perc(4):timp(sm)/tom-t(sm)/SD/3susp.cym/tam-t(med)/t.bells/glsp/xyl/vib/marimba;timp(lg)/tamb(med)/tom-t(med)/3susp.cym/tam-t(sm)/t.bells/glsp/vib/marimba;timp(med+lg)/SD/3susp.cyms/tam-t(lg)/t.bells/glsp/vib/marimba;tgl/tamb(lg)/SD/BD-2harps-cel-org-str(18.12.12.12.6)
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Sikorski
„Stimmen … verstummen …“ entstand 1986 im Auftrag der Berliner Festwochen und wurde im selben Jahr in der damals noch geteilten Stadt uraufgeführt. Das Werk ist Gennadij Roshdestwenskij gewidmet, jenem Dirigenten, der so viel für die neue und offiziell angefeindete sowjetische Musik getan hat. Auf seine gleichsam schamanenhafte Fähigkeiten hin ist die stumme Kadenz für den Dirigenten konzipiert, die im Goldenen Schnitt des Werkes steht.
Sofia Gubaidulina nennt das Werk eine Symphonie. Dies ist das erste und bislang letzte Mal, dass sie diese ehrwürdige, traditionsbelastete Gattungsbezeichnung gewählt hat. Sie tat das mit Bedacht: In den zwölf Sätzen werden zwei kontrastierende Bereiche exponiert, in einer Verarbeitungsphase durchdringen sie sich gegenseitig und gehen verändert aus diesem Prozess hervor. So abstrakt betrachtet, ist dies der Idealtyp der Symphonie, wie Mozart und Haydn ihn in ihren späten Symphonien entwickelten und wie Beethoven ihn zum Maßstab bis weit ins 20. Jahrhundert, auch bis zu dem großen Symphoniker Schostakowitsch, erhoben hat. Der klassische dialektische Dreischritt aus These, Antithese und Synthese ist auch in Gubaidulinas Symphonie als Strukturprinzip wirksam.
Der Titel „Stimmen … verstummen …“ geht auf das Werk „Perception“ zurück, einen 13sätzigen Zyklus für Sopran, Bariton und sieben Streicher, der 1986 in Lockenhaus uraufgeführt wurde. Zugrunde liegen Auszüge aus dem Briefwechsel zwischen der Komponistin und Francisco Tanzer, die die großen Fragen von Leben und Tod, von Liebe und künstlerischem Schaffen reflektieren durch Anspielungen auf Textstellen aus dem Psalter christlich einfärben. Der letzte Satz schließt mit den Worten „stimmen verstummen“. Auch die exponierte Verwendung reiner Dreiklänge zeigt sich schon in „Perception“.
Ein dritter Aspekt, der in die Symphonie „Stimmen … verstummen …“ einfließt, ist eine düstere Weltsicht, wie die Komponistin sie in den späten 1980er Jahren formulierte: „Die größte Besonderheit ist das Leben im Jahrhundert der realen Apokalypse. Nicht eine andere Periode der Geschichte zeigt uns mit solcher Deutlichkeit das Ende der Welt. Dies hinterlässt Spuren in allen Bereichen des Lebens, in unserem ganzen Handeln. Das Bewusstsein vom Ende der Welt tauchte in einigen Phasen der Geschichte auf. So erwarteten die frühen Christen die ganze Zeit den Weltuntergang. Für die frühen Christen war das Ende der Welt ein Segen, die Rettung der Gerechten. In unserem Bewusstsein gibt es keinerlei Hoffnung darauf, dass die Gerechten gerettet werden.“ (Ogonjok 1989, nach Cholopova, Restagno, S. 203).
Der hohe Anspruch der Symphonie als musikalische Idee, das Tanzer-Wort „stimmen … verstummen“ und eine christlich geprägte, apokalyptische Weltsicht bilden die Koordinaten für diese Komposition.
Ausgangspunkt ist ein Dualismus, der schärfer kaum formuliert werden kann: Die Streicher und Schlagzeuge sind in zwei Ensembles geteilt; hinter, besser über ihnen sind die Bläser, weitere Schlagzeuge und eine Orgel postiert. Das musikalische Material für den ersten Satz ist ein D-Dur-Dreiklang, mehr nicht. Als Orgelpunkt liegt er in der Orgel zugrunde, die Streicher intonieren ihn mit unterschiedlichsten Artikulationsarten, die Bläser treten mit kunstvollen klangfarblichen Abstufungen hinzu. Hier wird eine ruhige, eine statische und eine außergewöhnlich schöne Sphäre evoziert. Die Eintrübung des D-Dur-Dreiklangs durch seinen chromatischen Nachbarn Des-Dur am Ende leitet über in den zweiten Satz, der durch Streicherglissandi, sehr große Intervallsprünge und andererseits chromatische Flächen einen unruhigen, aufgewühlten Charakter vermittelt. Aus diesen beiden Gestalten, der Antithese von Harmonie und Dissonanz, entwickelt sich der symphonische Prozess. Bei genauerer Analyse zeigt sich, dass der Dreiklang-Satz, und zwar sowohl die klingenden Abschnitte als auch die Pausen, auf den Proportionen des Goldenen Schnitts basiert bzw. auf den Zahlen der sogenannten Fibonacci-Reihe, (1-1-2-3-5-8-13-21 …), bei der das nächste Glied durch die Summe der beiden vorausgehen entsteht und die mit höher steigenden Zahlen den Goldenen Schnitt immer perfekter abbildet. Solche rhythmischen und formalen Proportionen nennt die Komponisten „konsonant“. In diesem Sinne sind die Proportionen im zweiten Satz „dissonant“. Die beiden Begriffe beziehen sich hier nicht auf die Tonhöhen, sondern auf formale und rhythmische Verhältnisse.
Die in den ersten beiden Sätzen formulierte Antithese wird im Weiteren ausgeführt; die ungeradzahligen Sätze (I, III, V, VII) basieren auch einem Dreiklang, die geradzahligen (II, IV, VI, VIII) auf „unharmonischen“ Proportionen. Der achte und längste Satz spitzt diesen Prozess zu, indem die Dreiklangssphäre eindringt und es zu einer Überlagerung beider Bereiche kommt, die in einer orchestralen Kadenz mit mächtigen Akkordsäulen und gleichsam chaotischen Flächen gipfelt. Mit dem neunten Satz vollzieht sich die dramaturgische Wende: Der Dirigent rhythmisiert mit seinen Gesten die Stille, in die die Schlagzeuge zunächst noch hineinklingen. Die stummen Gesten sind die Antwort auf das lärmende Treiben der Instrumente. Was sich hier vollzieht, wurzelt im instrumentalen Theater, wie es in den 1960er und 1970er Jahren Mode war. In der Dramaturgie dieser Symphonie bedeutet die stumme Kadenz auch einen Schritt über die Grenzen des Instrumentalen hinaus. Diese Antwort stellt sich in die Tradition, die Beethoven in seiner neunten Symphonie etablierte, als er mit der menschlichen Stimme über die Grenzen des Instrumentalen hinaustrat. Die Handzeichen des Dirigenten sind nach den Fibonacci-Zahlen rhythmisiert; als große Gesten wirken sie zugleich wie Zeichen der Segnung. Insofern kommt auch in dieser Kadenz eine christliche Komponente hinzu.
Mit der Dirigentenkadenz vollzieht sich eine Wende: Nun basieren die geradzahligen Sätze (10. Satz) auf Dreiklängen, die ungeradzahligen (11. Satz) auf Dissonanzen. Der zwölfte Satz führt wieder beide Bereiche, nun in friedlichem Habitus, zusammen.
Sofia Gubaidulinas Entscheidung, ganze Sätze auf einem einzigen Dreiklang aufzubauen, wirkte Mitte der 1980er Jahre irritierend. Luigi Nono soll nach der Uraufführung hinter die Bühne gekommen sein und lange schweigend Sofia Gubaidulinas Hände gehalten haben. Viktor Suslin bat ihn, seinen Eindruck schriftlich zu fixieren, was er in deutscher Sprache tat.
„Innovation in der musikalischen Sprache (Farben – Akustisches –Spektrum – vielfältige Tempi – Räumlichkeit) frei von jedweden traditionellen akademischen Begrenzungen. Schöpfung von selten Intuition – Sensibilität – Intelligenz bis zu heuer Disposition des Orchesters: überraschenden Klänge – Gedanke – Gefühlen – Stimmen die in den Raum frei wandern, und mit dem Raum sich combiniern – komponieren bis zum Schweigen (… verstummen…). (Schweigen = harte Zeiten.)
Mit zu bewundernder innerlicher Kraft blühet explodiert und trifft die Musik, wie prismatische tragische Leben – Liebe – Erregungen, auf uns erstrahlend. Das, und viel vieles mehr, schenkt uns Sofia Gubaidulina.“
(Dorothea Redepenning)
Royal Stockholm Philharmonic Orchestra / Gennady Rozhdestvensky
Chandos CHAN 9183