Bernarda Albas Haus (with Iris ter Schiphorst)
(The House of Bernarda Alba) (1999)deaf soloist (female), soprano (male); 7 dancers;
elec.gtr-db-live electronics
Abbreviations (PDF)
Bote & Bock
Mit den für die beiden Komponisten Helmut Oehring und Iris ter Schiphorst (Co-Komposition) eigenen und in dieser Konstellation einzigartigen Mitteln wird ein Stück großes Welttheater konzentriert und gegenwartsnah musikalisch neu entfaltet: In Fassungslosigkeit vor religiösen Konventionen und Traditionen, vor Verrat, Gewalt und Tod wird die spanische Dorftragödie gebärdensprachlich vorgetragen - untermalt von Soundsamples und klanglich dramatisiert von Klavier, Gitarre und Kontrabaß. Einziger musikalischer Protagonist ist der Sopranist. Und dennoch ist die Musik nur Folie der Geschichte, die durch die Tänzer dargestellt wird.
Dreizehn Monate nach der Aufführung des größten Projekts ihrer gemeinsamen Zusammenarbeit, dem im Herbst 1998 in Paris, Donaueschingen und Brüssel vom Ensemble Ictus präsentierten Requiem, ist dies auf vollkommen andere Weise wiederum die Auseinandersetzung mit historischen und geistlich-katho-lischen Bindungen, Traditionen und Konventionen zum Thema ihrer schöpferischen Arbeit geworden. Standen für das Requiem Mozarts Totenmesse oder für ihre bislang erfolgreichste gemeinsame Zusammenarbeit Live (für Sängerin, Violine, Cello, präpariertes Klavier/Sampler und Live-Elektronik, UA 1997 in Witten) Schönbergs Pierrot lunaire unmittelbar Pate, so focussieren sie durch ihre musikalische Gestaltungskraft in Bernarda Albas Haus die literarische Vorlage des spanischen Dramatikers.
"Das Basler Bernarda-Team geht in seiner Abstraktion weiter als alle anderen, die eine Umsetzung des Schauspiels in Tanz versucht haben. Die Fabel interessiert hier nur insofern, als sie die Atmosphäre von Hysterie erzeugt, auf die es Schlömer und Oehring ankommt: ein Dampfkessel unterdrückter Leidenschaften, beinahe von Beginn an in der Gefahr zu explodieren.
Aktiver als bei den meisten anderen Tanzstücken ist die Musik an der Erzeugung dieser Atmosphäre beteiligt...eine unkonventionelle Musik aus melodisch durchsetzten Geräuschen: Gesangskantilenen, die sich über Cluster aufschwingen, nervöses Sägen des Kontrabasses, elektronische Explosionen, hinter denen, fast unhörbar, Schuberts Ave Maria oder der ferne Gesang eines Muezzins sich entfaltet.
Schlömers Choreografie verdichtet Oehrings musikalische Vorgaben zu einem dunklen Malstrom, der den Zuschauer unaufhaltsam mit sich reißt. Fünfviertelstunden lang bohrt sich die Aufführung beinahe schmerzhaft ins Nervenzentrum des Publikums." (Jochen Schmidt, FAZ, 19.11.1999)
"Mit den Autoren trafen offenbar drei Gleichgesinnte, Gleichempfindende zusammen, denn es wurde ein Tanztheaterstück ‘wie aus einem Guß’. Helmut Oehring und Iris ter Schiphorst entwickelten eine klangliche Partitur, die sich zwischen den Extremen eines zeitlupenhaft herbeigeführten Stillstands und musikalischer Erstarrung in gleißendem Lärm bewegt. Monotone Wiederholungen, Brüche, Neuansätze des Gleichen, Loops, vereinzelt Klänge ‘von daußen’ (Glocken, ein Vogel) und immer wieder Fragmente von Bach und Schubert – Erinnerungen an einst, an eine heile Welt, Sehnsucht, untergegangen im Rauschen eines uralten Grammophons. Den Lorca-Figuren fügten Oehring und ter Schiphorst ein eigenwilliges Paar hinzu. Seine Funktion gleicht derjenigen des Evangelisten in Bachs Passionen, tatsächlich verkörpert es aber die Nichterzählbarkeit einer Geschichte, weil deren Realität in den Emotionen spielt: die gehörlose Darstellering Christina Schönfeld, die Grundzüge des Schicksals von Bernarda Alba und ihren Töchtern in Gebärdensprache erzählt, denen der Countertenor Arno Raunig – dessen Text man naturgemäß im Cantilenengesang ebensowenig versteht – im Wortsinn Ausdruck verleiht. Es ist ein im ganzen Stück merkwürdig querstehendes Paar – auch musikalisch –, weil es eigentlich das tut, was man erwartet, aber letztlich doch nicht vestehen kann.
Ausgerüstet mit dieser fertigen Partitur schuf Joachim Schlömer für das Ensemble des Tanztheaters Basel eine Choreographie von realistischer Symbolik in den (Bühnen- und Kostüm-Nicht-)Farben schwarz/weiß – und gelegentlich rot (Frank Leimbach, Gesine Völlm). Ein tödlicher Flamenco ist darin der einzige ‘richtige’ Tanz. Ebenso wie in der Musik dominieren auch die Tanzsprache Diskontinuierliches, Fragmente: als Störung, zielloser Aktivismus, ergebnislose Ausbrüche. Nur Bernarda Alba repräsentiert mit ihren langsamen Gängen und Bewegungen beängstigende Beständigkeit. Musik und Tanz verschmolzen in diesen Ur- und Erstaufführungen zu einem schwarzen Gefühlstheater aus Gesten, Bewegung und Klang, kompromißlos, ohne Beschönigungen, brutal – aber berührend. Die Tänzerinnnen des Tanztheaters Basel und die Instrumentalisten Peter Kowald (Kontrabaß), Markus Retschnefki (präpariertes Klavier, Keyboard) und Jörg Wilkendorf (E-Gitarre) sorgten für die notwendige tänzerische sowie akustische Präsenz. Und im Hebbel-Theater hatte ich auch endlich einmal einen Sitzplatz, um die Notwendigkeit der Dolby-Surround-Aussteuerung (Torsten Ottersberg) am eigenen Leib erfahren zu können." (Giesela Nauck, Positionen, Februar 2000)
Arno Raunig / Christina Schönfeld / Jörg Wilkendorf / Peter Kowald / Markus Reschtnewki u.a.
(Deutscher Musikrat - Musik in Deutschland 1950-2000 / Tanztheater / Motive der Weltliteratur)
BMG 74321 73577 2