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Bote & Bock
"Nocturne" – Allein der Titel kann ein Panorama von Assoziationen samt angeschlossenen Erwartungen und Vermutungen öffnen; es reicht von Mozarts Nachtmusiken, die einen besonderen Ton für besondere Anlässe fanden, über ein Lieblingsgenre der Romantiker bis zu Schlüsselwerken des letzten Jahrhunderts , den "Nocturnes" Debussys, dem "Nachtstück" aus Franz Schrekers Komponistenoper "Der ferne Klang" und Hans Werner Henzes "Nachtstücken und Arien", diesen Plädoyers für eine moderne Schönheit. Komponisten bewegen sich mit dem, was sie schaffen, immer im Großraum der Geschichte und gestalten ihn mit, rufen in ihn hinein, empfangen Echos und Signale aus ihm, manchmal reicht sogar der großartige Anblick zur Inspiration. Keinem ist das klarer und in der kreativen Tragweite deutlicher bewusst als Detlev Glanert. Nachtstücke scheinen als Gattung besonders geeignet, die Empfangsbereitschaft und die Vorstellungskraft des Hörsinns zu schärfen und beides ineinander verschmelzen zu lassen.
Denn Nachtgedanken haben eine paradoxe Eigenschaft: sie kreisen häufig um ein, zwei Motive, die sich ständig wieder melden – verändert, vergrößert, verkleinert, in gewandelten Farben, Charakteren und Wirkungen. Zugleich ist unendlich Vieles und Verschiedenes in ihnen versammelt, Erinnerungen, nahe, ferne, persönliche, geschichtliche; dazu dunkle, helle, klare und verschwommene Bilder, intensive und verschleierte Farben, Gewissheit und Ahnung. Die gegensätzlichen Begriffe umschreiben die Erfahrung nur in wenigen Strichen, denn im Geschichtsraum der Nacht verfließen Grenzen, wird Heterogenes ineinander geblendet und zeitlich Entrücktes ins Jetzt-Erlebnis geholt. Die Nacht ist der Wartesaal der Vergangenheit und die Bühne der Fantasie; man muss nicht wissen, an welcher Stelle dieses transparenten Raums mit seinen wechselnden Licht- und Nebelwerten man sich befindet, man wird es hören.
In Detlev Glanerts Nachtstück gibt es Gesten, meist rasche Bewegungen auf- und abwärts, die ihre Frequenz bald steigern, bald lichten. Es gibt das Zerstieben von Tonenergien in alle mögliche Richtungen, das virtuelle Näher- und Ferner-Rücken durch differenzierte Lautstärken. Zusammen mit den »Harmonien der Nacht«, die teils als Akkorde erklingen, sich teils aus Linienspiel durch Wiederholung, Multiplikation und innerem Nachhall ergeben, formen sie den Hintergrund, die primäre Suggestion des Raumes, rücken aber auch von ihm ab, bilden Brücken und Passagen in den Vordergrund des Klangerlebens. Ihn beleben musikalische Gestalten, klar umrissen, aber äußerst wandelbar. Zwei solcher »dramatis personae« fallen besonders auf: der »Ruf«, mit dem die erste Flöte das "Nocturne" eröffnet, und ein zweites Thema, das zunächst in den Hörnern und Posaunen auftritt. Das erste durchwandert das gesamte Stück, verwandelt sich oft, bleibt häufig deutlich erkennbar, wird aber auch in Farbe und Dimension so stark verändert, dass man dem großen dunklen Schatten den Ursprung nicht sofort anmerkt. Der zweite Gedanke erlebt auch im weiteren Verlauf den Großteil (aber nicht alle) Metamorphosen in den Blasinstrumenten. Substanz und Klangeigenschaften beider Protagonisten verflechten sich bisweilen, in der Steigerung auf das Ende zu treten sie zusammen auf.
Glanerts "Nocturne" enthält auch, was man von einem Nachtstück vielleicht unmittelbar erwartet: dunkle, tiefe, kaum bewegte Passagen, in die langsam Leben kommt, hohe Lichtpunkte, die zu irisieren beginnen, flüchtige Bewegungen, die vorbeigehuscht sind, ehe das Gedächtnis sie einfangen kann. Es ist der Vorzug der Musik, dass in ihr viele Dimensionen und Erlebnisschichten in eins finden können. Sie ist die Nachtkunst par excellence, denn sie kann auch sagen: »Es werde Licht!«, und es wird Licht.
Habakuk Traber, 2012