Bote & Bock
Das erste in dieser Reihe von Solostücken für Klavier entstand im Jahr 2009. Eine erste Werkgruppe erschien 2024 als Druckausgabe.
Die Stücke sind als Etüden nicht nur für (fortgeschrittene) Pianistinnen und Pianisten, sondern auch für mich als Komponisten gedacht. Da sich meine eigenen Fähigkeiten auf dem Klavier in Grenzen halten, wollte ich mit diesen Etüden vor allem an Erfahrung im Schreiben von Klavierstücken dazugewinnen und zugleich meiner Verehrung für verschiedene Komponisten unterschiedlichster Epochen Ausdruck verleihen. Dadurch rückten mitunter technische oder harmonische Besonderheiten oder Neuerungen in bestimmten Werken oder auch ein allgemeineres Gefühl für die Sprache, den ‚Akzent‘ oder den Schwung jener bestimmten kompositorischen Stimme in den Fokus, bis hin zu Betrachtungen lebensgeschichtlicher und sehr persönlicher Züge der jeweiligen Komponisten.
In den meisten Fällen erweisen sich die Stücke – was nicht überrascht – als Hommage an Komponisten, die auch als Pianisten einen Namen hatten, wie Beethoven, Liszt, Brahms und Kurtág. Ihre Klavierwerke nehmen in ihrem Gesamtwerk zweifellos einen besonderen Rang ein und geben oft die Richtung nicht nur ihrer eigenen späteren Entwicklung als Komponisten, sondern des Komponierens für Klavier im Allgemeinen vor. Mit Lutoslawski und Janácek sind in diesem Band allerdings auch Komponisten vertreten, die nicht unbedingt für ihre Klavier-Solostücke bekannt sind, deren Werke in diesem Genre mich aber dennoch stets beeindruckt haben.
Hommage à Janácek ist meine erste Etüde für Klavier. Sie entstand 2009 für den italienischen Pianisten Emanuele Torquati für ein Janácek gewidmetes Recital-Programm. Auch wenn Janáceks Opern und Orchesterwerke weitaus bekannter sind, enthält sein relativ kleines Œuvre für Klavier nicht weniger starke Eigenständigkeit und eine spezifische Form von Wehmut und bewegt sich stets in seiner unverkennbar eigenen harmonischen Welt. In meiner Etüde gehe ich seiner meisterhaften Verwendung kleiner, wiederholter Zellen nach, durch die nicht nur Energie und starke dramatische Spannung entstehen, sondern auch Momente der inneren Einkehr, wie sie beispielsweise in seiner Suite Im Nebel zu finden sind.
Hommage à Bach war ursprünglich ein Auftragswerk der Londoner Wigmore Hall für Angela Hewitts Bach Book (2010) mit kurzen neuen Klavierstücken, die entweder Transkriptionen von Werken Bachs oder unmittelbar von Bach inspiriert sein sollten. Ich habe Angela Hewitt beim Wort genommen und sowohl das eine als auch das andere beigesteuert – ein eigens komponiertes Präludium und eine Choral-Transkription. Beide Sätze gehen auf relativ frühe Werke Bachs zurück: Prélude spiegelt den jugendlichen Überschwang und die Technik seiner Toccaten für Tasteninstrument wider (die nach seiner berühmten Pilgerreise zu Buxtehude nach Lübeck im Jahr 1705 entstanden), Chorale ist eine Transkription des besonders schönen Chorals „Gute Nacht, o Wesen“ aus der längsten und komplexesten seiner Begräbnis-Motetten, Jesu, meine Freude von 1723.
Meine Hommage à Kurtág war ebenfalls ein Auftrag der Wigmore Hall und erlebte ihre Uraufführung im Jahr 2011. Sie ist das einzige Werk in dieser Reihe, zu dem ich durch persönliche Begegnungen und Gespräche mit einem zeitgenössischen Komponisten inspiriert wurde. György Kurtág war während seiner Zeit als Composer in Residence bei den Berliner Philharmonikern Mitte der 1990er Jahre (als ich noch deren Bratschengruppe angehörte) einer meiner ersten, sehr prägenden Mentoren. Das aufsteigende und wieder absteigende Motiv des Stücks soll für sein inständiges Bitten stehen, mit dem er, seine Hände ineinander verschränkt, in außergewöhnlichen Kammermusikproben immer noch mehr Intensität von uns verlangte.
Mit der 2014 uraufgeführten Hommage à Brahms möchte ich mich nicht nur vor dem Komponisten Brahms verneigen, sondern auch seine Lebensgeschichte würdigen. Die drei Sätze sind als Zwischenspiele für die letzten von Brahms für Soloklavier komponierten Vier Klavierstücke op. 119 von 1893 gedacht. Hier habe ich mich vor allem von verschiedenen Texturen und Figurationen im Klavierpart von Brahms’ Duo-Sonaten und Liedern inspirieren lassen. Hält man sich Aspekte seines Privatlebens und vor allem seine lange und komplizierte Beziehung zu Clara Schumann vor Augen, so stehen diese Stücke mehr als alles andere im Zeichen der Linie beziehungsweise Stimme, die nicht da ist – der Leere in seinem Leben, der fehlenden Person an seiner Seite. Was zunächst wie Begleitfiguren klingt, entwickelt nach und nach ein Eigenleben und wirft Licht und Schatten unterschiedlichster Art auf die ergreifend melancholischen Stücke von op. 119.
Hommage à Lutoslawski entstand für die US-amerikanische Pianistin Gloria Cheng und ihr Projekt zum Gedenken an den amerikanischen Komponisten Steven Stucky – einen großartigen Kollegen, der meine Verehrung für die Musik von Witold Lutoslawski teilte. Daher schien es mir passend, Steve pianistisch mit einer Reverenz an Lutoslawski zu würdigen, obschon auch dieser nicht aufgrund seiner Klavierwerke Berühmtheit erlangt hat. Ausgangspunkt meines kurzen toccata-artigen Stücks ist eine markante durchlaufende Triolenfigur aus dem (vierhändigen) Klavierpart der 3. Symphonie des polnischen Meisters, und es endet mit einem völlig gegensätzlichen, weichen und wie aus der Ferne erklingenden Zitat der „großen Melodie“ dieses beeindruckenden Werks.
Music for Drakenstein besteht aus zwei Teilen. Das Stück entstand 2018 ursprünglich für ein – später abgesagtes – Gedenkkonzert im südafrikanischen Drakenstein-Gefängnis (in dem Nelson Mandela den letzten Teil seiner langen Haftstrafe verbüßte) und erlebte seine verspätete Uraufführung 2024 in London. Zum ersten Satz – Tallying – wurde ich durch die Art und Weise angeregt, in der Gefangene seit eh und je ihre Tage in Haft zählen, nämlich indem sie Striche in die Wände ritzen. Hier stehen die vier stur wiederholten Viertelnoten für die senkrechten Striche. Der darauf folgende fünfte, die ersten vier waagerecht kreuzende ‚Strich‘ besteht aus schweifenden Verzierungen, so als ob sich die Gefangenen bereits in die freie Welt aufmachen. Im nächsten Satz – Envoy – wird die heiß ersehnte Freiheit in einem leichtfüßigen Scherzo dargestellt: einer Hommage an Ludwig van Beethoven mit Bezugnahme auf einen meiner Lieblingssätze aus seinen Klaviersonaten – op. 27 Nr. 1 – sowie kurze Anklänge an seine freiheitsbejahende „Gefängnis-Oper“ Fidelio.
Mein jüngstes Werk in dieser Etüdensammlung ist Faustian Pact aus dem Jahr 2023, eine Hommage an Franz Liszt, den wohl schillerndsten unter den komponierenden Pianisten und klavierspielenden Komponisten. In meiner Zeit als Orchestermusiker beschränkten sich meine Begegnungen mit Liszts Musik im Wesentlichen auf „Schlachtrösser“ wie seine Klavierkonzerte und Les Préludes. Auch seine Faust-Sinfonie erregte meine ungeteilte Aufmerksamkeit, als ich sie kennenlernte. In letzter Zeit beschäftigte ich mich intensiver mit Werken wie den Études d’exécution transcendante, der h-Moll-Klaviersonate und dem geheimnisvollen Spätwerk Nuages gris, wodurch mir Ohren, Augen und Geist geöffnet wurden. Mit meinem Faustian Pact verneige ich mich vor diesem grandiosen Schöpfer in einer musikalischen Auseinandersetzung, die Liszts harmonische Unberechenbarkeit und Originalität ebenso streift wie sein draufgängerisch leuchtendes Klavierspiel und seine überraschenden Momente mystischer Einkehr.
Der erste Band der Homage Etudes wurde erstmals komplett am 20. April 2024 in der Londoner Wigmore Hall durch den britischen Pianisten Benjamin Grosvenor aufgeführt. Die hier vorliegende Ausgabe enthält meine Werke in der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung. Bei den gemeinsamen Proben für Benjamins Recital ergab sich eine ideale Reihenfolge für die Aufführung sämtlicher Etüden in einem Konzert; sie ist hier im Inhaltsverzeichnis zu finden.
Mein Dank gilt allen großartigen Pianistinnen und Pianisten, die in den letzten fünfzehn Jahren die Werke angeregt und zur Uraufführung gebracht haben: Emanuele Torquati, Angela Hewitt, Piers Lane, Emanuel Ax, Gloria Cheng und Benjamin Grosvenor. Darüber hinaus danke ich Benjamin Grosvenor für die erste zyklische Aufführung aller Etüden sowie für ihre Durchsicht und die redaktionelle Hilfe im Vorfeld der Veröffentlichung.
Brett Dean, 2024 (Übersetzung: Konstanze Höhn)