Boosey & Hawkes
Etüden suchen nach Grenzerfahrungen. Und das Ausreizen von manuell-spielerischen Extremen bedeutet im Idealfall auch eine Herausforderung des kompositorischen Denkens, eine Reflexion über die Grenzen des Möglichen und des Sinnhaften, über Tradition und Utopie und natürlich im besonderen Maße über das Verhältnis der eingesetzten Mittel zum künstlerischen Zweck. Das Spielerische ist eine Grundkonstante der Musik von Unsuk Chin, die darin aber nie verspielt wirkt oder blutleer, sondern vielmehr in ganz eigenartiger Präsenz erscheint. Da liegt die Anknüpfung an die Gattungs-Geschichte der Konzert-Etüde nahe, ebenso wie die Anknüpfung an die Geschichte des Instrumental-Konzertes, zu der Unsuk Chin in den letzten Jahren bedeutende Beiträge geliefert hat - auch hier mit dem Klavier im Mittelpunkt.
Auf zwölf Stücke ist der noch in Entstehung befindliche Zyklus der Klavieretüden projektiert, bis jetzt liegen sechs Etüden vor, geschrieben zwischen 1995 und 2003. In ihrer Verwandtschaft wie ihrer Individualität spiegeln sie auch wesentliche Momente von Unsuk Chins kompositorischem Denken, und sie sind so, obwohl natürlich relativ kurze Stücke, keine Gelegenheitswerke (die es ohnehin in Chins schmalem und konzentriertem Oeuvre eigentlich nicht gibt). Die zuerst entstandenen Etüden I - IV erfuhren 2003 anläßlich der Neuausgabe noch einmal eine Revision, bei der die Komponistin nicht nur einige Veränderungen in der Notation vornahm, sondern auch entscheidende Umarbeitungen zur Verdeutlichung der zugrundeliegenden Ideen, die zumeist das Verhältnis von Vertikale und Horizontale, von Linie und Harmonik betreffen.
Die Titel der Etüden verweisen auf ganz verschiedene Momente der musikalischen Praxis, teils auf Genres, wie das „Scherzo ad libitum“ (Nr.III) oder die „Toccata“ (Nr.V), teils auf Kompositionstechnisches, wie „Sequenzen“ (Nr.II), „Scalen“ (Nr.IV) und „Grains“ (Nr.VI) . Der letztgenannte Titel bezieht sich auf eine Technik der elektronischen Komposition, die Granularsynthese, mit der sich Unsuk Chin auch in ihrem Stück „Xi“ beschäftigt hat. Grains sind winzige, wenige Mikrosekunden dauernde Klangelemente, die mit dem Computer aus Ausgangsklängen gewonnen und neu bearbeitet werden. Das Klavierstück nimmt diese Erfahrungen aus der elektronischen Musik in das eigene Medium auf. Gegenüber den anderen Stücken des Zyklus‘ ist die bei aller Komplexität ausgedünnte Klanglichkeit auffällig, die Reduktion auf wenige Tonhöhen und der repetitive Charakter mancher Gesten.
Virtuosität wirkt in dieser bisher letzten der Etüden weniger unmittelbar, sie wird jedoch verlangt in der unabhängigen Realisierung der weit auseinander gezogenen und deutlich unterschiedenen Klangschichten mit den ihnen zugeordneten Gestalten. Solches Denken in Klangschichten prägt auch das den Zyklus eröffnende Stück, „in C“, das vom Zentrum „C“ aus (wie es sich für das erste Stück eines solchen Zyklus‘ gehört) zu weiten harmonischen Entwicklungen ausholt. Wie die mittleren Etüden trägt auch „in C“ ausgesprochen virtuosen Charakter, verlangt bei allen grifftechnischen Eskapaden vor allem große rhythmische Flexibilität. Das dichte Liniengeflecht der zweiten Etüde, „Sequenzen“, fordert vor allem das polyphone Gestaltungsvermögen heraus. Im „Scherzo“ und in den „Scalen“ stehen demgegenüber solch virtuose Aspekte wie das Überkreuzspiel beider Hände oder die plastische Ausarbeitung der Gestalten und der Dynamik im schnellen Tempo im Vordergrund.
In jeder dieser Etüden erscheint das Virtuose aber als ein Ausdruck konstruktiver Phantasie, es trägt die formalen Prozesse ebenso wie die fast körperhaft präsenten Klangerfindungen, Virtuosität erzeugt Komplexität und wird so erfahrbar als Mittel der Ausbildung höchst individueller musikalischer Charaktere.
© Martin Wilkening
Mei Yi Foo, piano
Odradek Records 1700302