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Bote & Bock
Nach unserer ersten Zusammenarbeit an einem Werk für Sinfonieorchester, Hip-Hop-Chor und Sprecher mit einem Text aus seinem Buch said the shotgun to the head. fragte mich Saul Williams, ob ich nicht einen weiteren Text, nämlich NGH WHT aus seinem neuesten Buch the dead emcee scrolls in Musik umsetzen möchte. Saul gab mir anschliessend eine Aufnahme, auf welcher er die 33 Kapitel in seinem eigenen, rhythmisch komplexen Stil vortrug.
Meine spontane Idee war, diesem aufwühlenden Gedicht ein Streichquartett gegenüberzustellen, nicht nur wegen der engen Verwandtschaft der menschlichen Stimme mit den Saiteninstrumenten, sondern auch weil mir diese konzentrierte Formation sehr geeignet schien, den weiten Bereich zwischen intimer Lyrik und explosiver Dramatik auszudrücken.
Sauls Gedichte – so sagt er selbst – sollten eigentlich nicht gelesen, sondern gehört werden. Deshalb lässt er durch seine Auftritte in Poetry-Slams die jahrtausendealte Tradition der mündlichen Ueberlieferung wieder aufleben, in der musikalische Elemente immer eine wichtige Komponente waren, sei es zur rhythmischen Unterstützung der Reime oder zur gesanglichen Umsetzung und Verdeutlichung des Inhaltes.
Das Streichquartett folgt seiner atemlosen Rezitation wie einer Synchronspur, in einer Informationsdichte und einem Tempo, in welchem das Mitlesen des Textes sehr schwierig wäre. Da zudem nur Eingeweihte seine oft kodierten, symbol- und beziehungsreichen Inhalte verstehen, erhält das Quartett eine wichtige Rolle musikalischer Vermittlung und Dekodierung in eine andere Ebene des Verstehens.
Ich habe seine Stimme unverändert übernommen, aus ihr rhythmische Strukturen, Melodien und Klangfarben abgeleitet und in instrumentale Sprache, teils frei, teils möglichst direkt umgesetzt. Oft artikuliert das Quartett einzelne Schlüsselworte, Silben, Formanten und Atemgeräusche gleichzeitig und verschmilzt an einigen Stellen fast vollständig mit dem gesprochenen Wort. An andern Stellen wiederum beschreitet das abgeleitete Sprachmaterial ganz eigene Wege, in einem fliessenden Prozess zwischen Annäherung und Distanz, Synchronität und Zeitverschiebung, Anpassung und Widerstand.
NGH WHT ist ein Auftragswerk der Schweizerischen Kulturstiftung "Pro Helvetia" 2007
© Thomas Kessler – Toronto, Oktober 2007