Concerto Grosso No.2
(Concerto grosso Nr. 2 für Violine, Violoncello und Orchester) (1981-82)3(III=afl).3(III=corA).3(III=bcl).3(III=dbn)-4.4.4.1-perc(4):timp/2tom-t/SD/BD/cyms/hi-hat/t.bells/glsp/vib/marimba-egtr-bgtr-cel-pft-hpd-str
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Sikorski
„Zur seiner Hundertjahrfeier im Jahre 1982 gab das Berliner Philharmonische Orchester bei Alfred Schnittke ein neues Concerto grosso in Auftrag. Nach dem großen Erfolg seines ersten Concerto grosso und weiteren zum Teil triumphalen Uraufführungen – Gogol-Suite und Sinfonie Nr. 2 1980 in London, Sinfonie Nr. 3 in Leipzig und eine Passacaglia für Orchester beim Südwestfunk in Baden-Baden, beide im November 1981 – hatten sich die Berliner entschieden, Alfred Schnittke, der 1981 Mitglied der West-Berliner Akademie der Künste geworden war, bei der Vergabe ihrer Jubiläumsaufträge als Repräsentanten der sowjetischen Moderne zu berücksichtigen. Dieser erbat sich als Uraufführungssolisten das Interpretenehepaar Oleg Kagan (Violine) und Natalia Gutman (Violoncello), deren kantable Tongebung er besonders schätzte und mit dem ihn eine langjährige Freundschaft verband. Unter Leitung des Italieners Giuseppe Sinopoli gelangte das Concerto grosso am 11. September 1982 im Rahmen der Berliner Festwochen zur Uraufführung.
Da das Werk nun einmal für die Berliner Philharmoniker bestimmt war, entschied sich Schnittke, sein Concerto grosso für große Orchesterbesetzung zu schreiben. So wurde es ein Weiterdenken einerseits seines ersten Concerto grosso und andererseits seines letzten Instrumentalkonzertes, des 3. Violinkonzerts aus dem Jahre 1979, das er bereits für Oleg Kagan geschrieben hatte. Auf einer Pressekonferenz in Berlin am Vortag der Uraufführung, die zahlreiche Musikjournalisten anzog, gab Schnittke, der anlässlich dieses Ereignisses erstmals nach West-Berlin anreisen durfte, folgende Erläuterungen zu seinem Werk: „Die ersten drei Sätze halten sich an das Schema eines Concerto grosso, nämlich schnell – langsam – schnell. Und dann kommt ein Postscriptum, der langsame vierte Satz am Ende, der für mich der wichtigste in diesem Stück ist. Ich meine damit, dass die ersten drei Sätze absichtlich eine Musik sind, wo alte, stilisierte Musik durch eine teilweise moderne, teilweise stilisierte Sprache durchscheint. Es ist der Versuch eines Spiels mit Stilen, wo es à la Concerto grosso beginnt, dann wieder dissonanter wird, dann wieder zurückkehrt. Der letzte Satz ist stilistisch homogener. Es ist ein langsames, ausklingendes Adagio. Es gibt keine Zitate, aber sehr viele Andeutungen.“
Dem ersten Satz ist eine kurze Andantino-Einleitung vorangestellt, in der die Solisten nacheinander pizzicato ein wiegendes 9/8-Motiv vortragen, das im weiteren Verlauf des Werkes immer wieder aufscheinen wird. Es erinnert an den Anfang des Liedes „Stille Nacht“, über das Schnittke bereits vier Jahre zuvor als Weihnachtsgeschenk für Gidon Kremer eine gewagte Paraphrase für Violine und Klavier geschrieben hatte. Der Komponist bekannte, dass ihm dieses Zitat unbewusst unterlaufen sei. Es ist also weder eine Reverenz an den deutschen Auftraggeber noch ein versteckter Nadelstich gegen den atheistischen sowjetischen Staat. Musikalisch gesehen ist es eines von vielen Elementen, aus denen Schnittke dieses Concerto grosso polystilistisch zusammensetzt. Durch seine romantische Prägung scheint es etwas Friedlich-Harmonisches zu verkörpern. In diese friedliche Einleitungsstimmung bricht alsbald das Tutti hinein und markiert damit den Beginn des ersten Satzes, ein Allegro in quasi-barocker Sechzehntel-Motorik. Das D-dur-Hauptthema scheint aus dem dritten oder fünften Brandenburgischen Konzert von Johann Sebastian Bach abgeleitet zu sein. Während dieser vorwärtsdrängende Gestus gebrochener Dreiklänge mehr oder weniger intensiv bis zum Schluss des Satzes beibehalten wird, verändert sich dessen melodisch-harmonische Gestalt durch Rückungen, Schwerpunktverschiebungen und extreme chromatische Verschärfungen zwischendurch bis hin zur Polytonalität und kaum hörbaren Zwölftönigkeit, um dann immer wieder vorübergehend zur D-dur-Tonalität zurückzukehren. Im Zuge dieser Entwicklung kommt es kurzzeitig zu einem Abschnitt, in dem Marimba, Celesta und Vibrafon zu den Soloinstrumenten hinzutreten und ein Zwölfton-Motiv einführen, das sich durch versetzte Einsätze von zwei Sechstonfolgen ergibt. Auch ein weiteres, rhythmisch markantes Motiv der Solo- und Tutti-Violinen bleibt ohne Folgen, ebenso wie eine plötzliche Wendung nach c-moll. Der zusätzliche Einsatz elektrischer Gitarren und Bassgitarren leitet endlich den Satzschluss ein, die motorische Bewegung kommt zu einem abrupten Stillstand. Ein jäher Blechbläserakkord in dreifachem Forte wirkt angesichts des Vorhergehenden wie ein Befreiungsschlag und schafft tonartlich gleichzeitig eine Überleitung zum nächsten Satz.
Neue Ausdruckssphären tun sich im langsamen Pesante-Satz auf. Erneut greift Schnittke den 9/8-Takt des einleitenden Andantino auf. Mehr noch als der erste Satz ist dieser zweite ein großartiges Beispiel für Schnittkes Meisterschaft in der thematisch-motivischen Durcharbeitung. Über einem schreitenden Bassfundament singen Solovioline und Solocello ein berückendes Liebesduett, dessen Melodie von dem rhythmisch markanten Motiv aus dem ersten Satz abgeleitet ist. Nach einer intensiven Entwicklung und Steigerung im gesamten Orchester intonieren Solovioline und Solocello in Engführung erneut das „Stille-Nacht“-Motiv, diesmal in dreifachem Forte, gleichsam ekstatisch. Wie eine Verspottung erscheint schließlich das Liebesmotiv des Solistenduos in verzerrter Form in den tiefen Bläsern und E-Gitarren. Ermattet und geschwächt führen die Solisten den Satz mit Trillern und Flageoletts zu Ende, während die Celesta noch wie aus der Ferne die Duett-Motivik des Anfangs anklingen lässt.
Ohne Unterbrechung schließt sich hiernach der dritte Satz, Allegro, an. Erneut bedient sich Schnittke des „Brandenburgischen Themas“, diesmal in E-dur intoniert von den Flöten. Nach der unwirklichen Atmosphäre am Ende des zweiten Satzes wirkt dieser Allegro-Beginn mit einem Mal sehr real. Nur unterstützt von den 1. und 2. Violinen, den E-Gitarren und zuletzt auch vom Bläserapparat erreicht der Satz einen ersten Höhepunkt, nimmt sich dann aber erneut zurück: Die Motorik gerät etwas ins Stocken, die Besetzung reduziert sich. Solocello und später auch Solovioline tragen nun ein von großen Intervallsprüngen gekennzeichnetes Thema vor. Schließlich nimmt das Cello wieder die Sechzehntelfiguren des Satzanfangs auf, gefolgt von der Violine. Indem immer mehr Orchesterinstrumente dazukommen, gerät alles erneut in den Sog des Barockthemas, bis die Entwicklung in einem furiosen Clusterklang kulminiert.
Mit dem Andantino haben wir das von Schnittke so genannte „Postscriptum“ erreicht. Es entstand zusammen mit der Einleitung erst nachträglich, nachdem sich nach den Worten des Komponisten in den ersten drei Sätzen „alles im trügerischen Kreis gedreht“ hatte. Bestimmend für den ruhigen Ausklang des Concerto grosso ist ausschließlich das „Stille-Nacht-Thema“. Wie häufig in Schnittkes Schlusssätzen, besonders in den Instrumentalkonzerten, hellt sich die Atmosphäre auf, die Musik gewinnt neue Dimensionen, und es erschließen sich neue Ausdruckswelten. Erneut erweist sich Alfred Schnittke als meisterhafter Komponist von spannungsvollen Aus- und Nachklängen.“ (Hans-Ulrich Duffek)