Concerto Grosso No.1
(Concerto grosso Nr. 1 für zwei Violinen, Cembalo, präpariertes Klavier und Kammerorchester) (1977)str(6.6.4.4.1)
Die Soloparts von Cembalo und Klavier werden von einem Instrumentalisten ausgeführt.
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Sikorski
„Unbeachtet von der internationalen Musikwelt wurde Alfred Schnittkes erstes Concerto grosso am 21. März 1977 in Leningrad von den Geigern Gidon Kremer und Tatjana Grindenko, dem Pianisten Juri Smirnow und dem Leningrader Kammerorchester unter der Leitung von Eri Klas uraufgeführt. Zwar folgten danach weitere Aufführungen in Moskau, Vilnius, Tallinn, Riga und Budapest, doch die Erfolgsgeschichte des Werkes begann erst mit einer Tournee des Litauischen Kammerorchesters unter Saulius Sondeckis im November/Dezember 1977, auf der es nahezu zwanzigmal in verschiedenen Städten der Bundesrepublik und Österreichs gespielt wurde. Geschrieben auf Anregung Gidon Kremers zu dessen 30. Geburtstag, wurde dieses geistreiche und raffiniert instrumentierte Concerto grosso geradezu zum Markenzeichen des Komponisten, zu einem seiner meistaufgeführten Werke, das bis auf den heutigen Tag auch im Rahmen von Ballett- und Filmmusiken häufig Verwendung findet – zum Beispiel in Volker Schlöndorffs Streifen „Der neunte Tag“, der Anfang November 2004 in die Kinos kam.
Das Concerto grosso ist ein klassisches Beispiel für Schnittkes Polystilistik. Schnittke spricht von drei musikalischen Sphären in diesem Werk: „Chiffren und Formtypen der Barockmusik, freitonale Chromatik und Mikrointervalle sowie vulgäre Gebrauchsmusik banaler Prägung.“ Das Gegeneinander-Ausspielen und Interpolieren dieser Sphären, die nicht scharf voneinander abgegrenzt seien, erzeuge die wesentlichen Spannungseffekte in diesem Stück. Eine besondere Bedeutung hatte für Schnittke bei diesem Werk die Einbeziehung von Trivialmusik: „Ich träume von der Utopie eines einheitlichen Stils, wo Fragmente der U- und der E-Musik nicht im Sinne von komischen Effekten verwendet werden, sondern ernsthaft musikalische Realität mit vielen Facetten repräsentieren. Daher habe ich hier im Rahmen eines neoklassischen Concerto grosso einige Fragmente aus meinen Filmmusiken verwendet: ein fröhliches Kinderchorlied, eine nostalgisch-atonale Serenade, ein Stück echten Corelli made in the USSR und schließlich den Lieblingstango meiner Großmutter, den meine Urgroßmutter oft auf dem Cembalo spielte.“ Schnittkes Filmmusikzitate, die sich in nahezu allen Sätzen des Werkes finden, beziehen sich im Wesentlichen auf seine Musik zum Film „Wie Zar Peter seinen Mohr verheiratete“, die er kurz zuvor für Mosfilm komponiert hatte.
Das Concerto grosso Nr. 1 besteht aus sechs Sätzen, die ineinander übergehen. Formal ist es an die barocke Sonata da chiesa angelehnt. Deren spezifische Satzfolge langsam – schnell – langsam – schnell entspricht hier den Sätzen Preludio – Toccata – Recitativo – Rondo, die das Gerüst des Werkes darstellen. Die Concertino-Gruppe wird von 2 Violinen und einem Tastenspieler gebildet, der sowohl ein Cembalo als auch ein präpariertes Klavier zu bedienen hat. Der Klang des Klaviers ist allerdings durch zwischen die Saiten gesteckte Münzen deutlich verfremdet, er wirkt blechern und mechanisch, was an die Präparierungspraxis eines John Cage erinnern lässt.
Das ruhig-getragene Preludio beginnt mit einem vom präparierten Klavier vorgetragenen zehntaktigen Prolog-Thema (ursprünglich ein sowjetisches Pionierlied), das im weiteren Verlauf des Werkes immer wieder wie ein fremdes Element hereinbrechen wird. Schnittke spricht hier von dem Symbol einer „äußeren Macht“ und meint damit die geradezu dämonische Wirkung banaler, von außen hereinbrechender Elemente in den so unanfechtbar scheinenden Bereich der Kunstmusik. Danach setzen, über gehaltenen Streicherakkorden, zaghaft die Soloviolinen ein. Sie dialogisieren miteinander, zunächst in sich spiegelnden kleinen Sekunden, dann in kleinen Terzen. Dieses imitatorisch-dialogisierende Prinzip wird das weitere Zusammenspiel der Soloviolinen in diesem Concerto grosso bestimmen. Nach einer kurzen Kadenz folgt ein zweiter Teil mit einem neuen chromatischen Thema, in dessen Entwicklung hinein das Cembalo – gleichsam als Klavier in historischer Kostümierung – schließlich erneut das Prolog-Thema präsentiert. Ein vom Streichorchester bestimmter Schlussteil verdeutlicht noch einmal die enge Verzahnung aller Themen und Motive dieses Satzes.
Die darauf folgende Toccata, die drei verschiedene Themen verwendet, weist eine Rondoform auf. Ein eindeutig barocker Musiziergestus prägt das erste Thema. Ein motorisches, vorwärts drängendes a-moll-Thema der Soloviolinen wird vom Streicher-Tutti aufgegriffen. In alternierenden Solo-Tutti-Abschnitten wird das Thema sequenziert, chromatisch verarbeitet und dadurch harmonisch modifiziert. Diskant- und Bassbereich des Orchesters werden dabei in harten Schnitten gegeneinander gesetzt. Das von Tonrepetitionen geprägte zweite Thema in cis-moll, das von Soli und Tutti in chromatischen Imitationen weitergeführt wird, sorgt für eine kurzzeitige Beruhigung der Entwicklung, bis sich das a-moll-Thema wieder zurückmeldet. Eine rasante Steigerung führt zur Wiederkehr des Prolog-Themas, das, vom Cembalo vorgetragen, diesmal in längeren Notenwerten erscheint und von Soloviolinen und Tutti-Streichern mit Motiven aus dem zweiten Preludio-Thema kontrapunktiert wird. Nun folgt die von Schnittke so genannte „nostalgisch-atonale Serenade“ – ein kontrastierender Mittelteil in streng dodekaphonischer Manier, der auf Grund seines Ländlercharakters an Schönberg oder Berg denken lässt. Bei genauem Hinhören erkennt man übrigens, dass die Zwölftonreihe auf dem B-A-C-H-Motiv beruht. Immer wieder neu hereinbrechende Akkordrepetitionen der Tutti-Streicher sorgen für erste Störungen, zu weiteren Irritationen führt sodann das diesmal bitonal verfremdete Prolog-Thema im Cembalo, kombiniert mit Motiven aus dem zweiten Thema und aus dem Preludio. Schließlich endet die Toccata in einer großen Konfrontation und einer gleichzeitigen Zusammenführung aller Toccata-Themen in variierter Form mit dem motorisch-dynamischen Gestus, der den Satzanfang bestimmte.
Das langsame Recitativo greift thematisch und atmosphärisch wieder auf das Preludio zurück. Dabei wird das Geschehen erst von den Tutti-Streichern bestimmt, bis auch die Soloviolinen zunehmend an der dichten Mikropolyphonie der thematischen Verarbeitung teilhaben. Sind zunächst das erste (in den Soloviolinen) und das zweite Preludio-Thema (Tutti-Streicher) ausschlaggebend, führen die kanonische Engführung und chromatische Verdichtung des zweiten Themas mit dem Schlussteil des Preludio, die bald nur noch als bewegte Cluster-Klangfläche wahrgenommen wird, schließlich eine groß angelegte Schlusssteigerung herbei, in welcher der Komponist sogar ein kurzes Zitat aus dem Violinkonzert von Tschaikowsky versteckt.
Die kurze Cadenza der beiden miteinander dialogisierenden Soloviolinen führt kein neues thematisches Material ein, sondern verwendet die bekannte Preludio-Motivik. Die zunächst exakt notierte Rhythmik geht in einen Abschnitt ohne festes Metrum und schließlich in ein Improvvisando über, das zuletzt in eine überraschende c-moll-Kadenz mündet – ein Hinweis auf den folgenden Rondo-Satz.
Das Rondo, das formal ähnlich wie die Toccata aufgebaut ist, beginnt mit einem barock anmutenden c-moll-Thema im Concertino, das bald vom Tutti aufgegriffen und durch Sequenzierungen, Motivaufspaltungen u.ä. durchgeführt und variiert wird. Es folgt ein zweites Thema, abgeleitet aus der Schlusssteigerung des Recitativo, an dessen Ende das bereits bekannte Prolog-Thema in polytonaler Schichtung steht. Nach Wiederkehr des c-moll-Themas erscheint unvermittelt ein Tango ¬– als erneutes Element der Trivialmusik. Er stammt unmittelbar aus Schnittkes Musik zu Elem Klimows Rasputin-Film „Agonie“ aus dem Jahre 1974 und geht wohl auf einen Tango zurück, der im Hause seiner Großmutter besonders geschätzt wurde. Ähnlich wie für Weill („Dreigroschenoper“) oder Bertolucci („Der letzte Tango in Paris“) hat der Tango für Schnittke die Funktion des Schicksalhaften. Vorübergehend drängt sich der Themenkopf des c-moll-Themas in den ruhigen Verlauf des Tangos und kündigt damit die Rückkehr dieses Rondothemas an, das, alsbald mit dem zweiten Thema vereint, letztlich in eine Coda führt. In diesem geradezu irrwitzigen Kabinettsstück verzahnt Schnittke eine Vielzahl bedeutender thematischer Materialien des Concerto grosso miteinander auf engstem Raum: Rondo-Thema, Tango, die Toccata-Themen 1 und 2 und das zweite Preludio-Thema. Epilogartig endet der Rondosatz mit dem Prolog-Thema im Klavier über einem dichten, 21stimmigen Streicher-Cluster.
Ohne Unterbrechung schließt sich über diesem Cluster wie ein leiser, schattenartiger Nachklang das Postludio an, in dem das erste Preludio-Thema und kurzzeitig auch das Kopfthema der Toccata, gleichsam erschöpft nach dem dramatischen Verlauf dieses Concerto grosso, ihren Geist aushauchen.“ (Hans-Ulrich Duffek)