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Bote & Bock
Wenn man einen großen Dichter der Vergangenheit liest, kann es geschehen, daß man von einer Zeile getroffen wird, daß man glaubt, Worte aus der unmittelbaren, eigenen Gegenwart zu vernehmen. Andere Sätze des gleichen Dichters mögen dunkel klingen; man wird versuchen, sie aus dem Kontext ihrer Zeit heraus zu verstehen, indem man die "Sprache" ihrer Zeit erlernt.
So ging es mir mit Hölderlin, und der Gedanke entstand, jene doppelte Reaktion musikalisch zu gestalten: die Ton-Sprache unsere Zeit sollte mit der Ton-Sprache der Hölderlin-Zeit – sprich: der Beethoven-Zeit – kombiniert werden. So entstand eine Form, die beide Sprachen entweder hart geschnitten, sich ablösen läßt, oder sich weich durchdringen läßt: z.B. Bratsche und Cello spielen im klassischen Stil, die beiden Violinen in "moderner" Weise. Auch entstehen Mischformen, wenn etwa klassische Metrik sich mit zwölftöniger Tonhöhenführung verbindet. Denn die strukturelle Verbindung der beiden Sprachen wird durch eine Zwölfton-Reihe gewonnen: diese Reihe kann, durch Hinzufügung von Harmonienoten, tonal interpretiert werden, sei es als klassisches Thema, sei es als Baßlinie eines vierstimmigen Satzes: und sie kann als Matrix für alle möglichen atonalen Abläufe dienen.
Der Text Hölderlins – das Fragment "An die Madonna" – wird von einem Sprecher, fast wie eine fünfte Stimme zum Quartett, gelesen: die zahlreichen Abbrüche des Originaltextes liefern den Grund für Zäsuren während des Text-Vortrags; die 46 (verschieden langen) Teile des Quartetts entsprechen in etwa den Fragmentteilen Hölderlins. Der Text soll nicht dominieren (es gibt sogar eine Stelle, wo er unverständlich bleiben soll). Am Schluß steht eine Fuge, deren Themenbeginn von Beethoven ist; sonst gibt es keinerlei Zitate oder Collagen.