3(III=picc).2.corA.2.bcl.2.dbn-4.3.3.1-timp.perc(3):3tam-t(sm,med,lg)/crot/3wdbl/3tom-t/marimba/xyl/2bongo/vib/cym(lg)/claves/t.bells/SD/BD/TD/3bowed cym/tgl/sleigh bells/tamb-harp-strings
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Boosey & Hawkes
Im Jahre 1903 veröffentlichte Hugo von Hofmannsthal einen fiktiven Brief, den "Brief des Lord Chandos" (adressiert an Francis Bacon), mit dem er eine tief greifende Schaffenskrise zu überwinden trachtete. In diesem berühmt gewordenen "Literaturbrief" ist unter anderem von "der inneren Form" die Rede, "jener tiefen, wahren inneren Form, die jenseits des Geheges der rhetorischen Kunsttücke erst geahnt werden kann, die, von welcher man nicht mehr sagen kann, dass sie das Stoffliche anordne, denn sie durchdringt es, hebt es auf und schafft Dichtung und Wahrheit zugleich, ein Widerspiel ewiger Kräfte, herrlich wie Musik und Algebra."
Hierauf bezieht sich der Titel meines Konzerts für 2 Klaviere und Orchester. Er verweist zum einen auf das bei Hofmannsthal anklingende Widerspiel von Intuition und Logik, Gefühl und Verstand, zum anderen auf meine grundlegende Vorstellung von Form jenseits des Formelhaften, Schematischen, äußerlich "Gesetzten", sondern von Form als Ergebnis eines Entfaltungsprozesses, eines ausgewählten Materials in (netzartig) miteinander verbundene "Energiefelder" ("morphogenetische Felder") von unterschiedlicher Charakteristik und Komplexität.
Widerspiel ist demgemäß kein Konzept im ursprünglichen Sinne des "Wettstreits", auch nicht des romantischen "Virtuosenstücks", sondern ein Werk, in dem die beiden Soloklaviere unterschiedliche Rollen übernehmen: Häufig dominieren sie, zeitweise agieren sie im "Mittelgrund" des Klanggeschehens, verharren auch schon einmal im Hintergrund, aus dem sie unversehens wieder in den Vordergrund treten und sozusagen ihre Rolle als "Wortführer" übernehmen.
Auch das Verhältnis der beiden Klaviere zueinander ist durchaus wechselhaft: gegensätzlich, komplementär, sich gegenseitig stützend und in der Klangfülle (Komplexität) steigernd etc.
Der 1. Satz wird im Wesentlichen durch die Opposition zweier musikalischer Elemente bestimmt: ein markantes (trochäisches) rhythmisches Motiv (und seine Fortspinnung), mit dem das 2. Klavier den Satz eröffnet, und eine quasi arpeggierte Tonfigur, die das 1. Klavier schon bald schroff dagegen setzt. Aus dem sich immer wieder neu konstituierenden Wechselspiel dieser beiden Elemente entfaltet sich der 1. Satz im Sinne einer "permanenten Durchführung".
Der langsame 2. Satz ist 3-teilig. Die beiden mit der Tempobezeichnung "Largamente" überschriebenen Rahmenteile umschließen einen in jeder Hinsicht äußerst kontrastierenden schnellen Mittelteil. In diesem Satz spielen klangliche Aspekte (komplexe Harmonik auf der Basis der ins Vertikale projizierten 23-tönigen "Klanggestalt", die alle drei Sätzen zugrunde liegt) sowie klangfarbliche Valeurs (gestrichene Becken etc) eine besondere Rolle. Im dritten Satz dominiert der rhythmisch-metrische Aspekt. Durch extreme Stauchungen der aus der "Klanggestalt" abgeleiteten "Zeitgestalt" (einer 23-gliedrigen Taktsequenz) ergeben sich sehr vertrackte, durch ständige schnelle Wechsel gekennzeichnete Taktanordnungen, die zu dichten Verschachtelungen der musikalischen Ereignisse führen. Eine ausgedehnte Kadenz für die beiden Soloklaviere mündet in eine kurze, ständig dichter werdende Stretta, in der die wesentlichen musikalischen Elemente des Satzes noch einmal im "Zeitraffer" kombiniert werden.
Widerspiel ist Elena Bashkirova und Brigitte Engerer gewidmet, die im Sommer 1997 beim Klavierfestival Ruhr meine Partita für 2 Klaviere uraufgeführt und mich zur Komposition von Widerspiel angeregt haben. Beiden Werken liegt nicht nur das gleiche musikalische Material zugrunde, sondern bestimmt Motive und Charaktere aus der Partita tauchen im Widerspiel wieder auf, aber erweitert, in neue Zusammenhänge gestellt, mit dem Ziel, sie in die große Konzertform zu überführen.
„Das unter James Conlon uraufgeführte Werk wurde in all den an Varianten reichen Abschnitten seiner drei Sätze aus einer ‘Klanggestalt’ entwickelt, einer Reihe von 23 Tönen. Wiewohl strikt konstruiert, wirkt dieses Doppelkonzert durch seine klangsinnlichen Momente, ja durch einen weithin scheinbar narrativen Gestus: als artikulierten sich da vor dem Hintergrund von Gruppenmeinungen unterschiedlich markante Äußerungen von Einzelnen, die Argumente weiterreichen oder mit einem Vorstoß ins Leere laufen, sich ins Wort fallen und zu übertönen suchen. Spielfelder der Randgruppen (bis hinunter zum Kontrafagott) und rhetorisches Ränkespiel. Tumultarisches wechselt mit ruhig plädierenden Passagen. Aus dieser musikalischen Parteienlandschaft hebt sich die Doppelspitze der zwei Klaviere hervor, die immer wieder ins Tutti zurückgenommen wird, um sich dann doch aufs Neue zu profilieren. Elena Bashkirova und Brigitte Engerer schlugen sich bravourös durch die vertrackten rhythmischen Strukturen und sorgten für die erforderliche Klarheit der Hauptlinien.
Obwohl York Höller keine programmatische (Neben-) Absichten verfolgte und er eine Beeinflussung seiner Arbeit durch Gefühlsassoziationen oder gar Landschaftsbilder von sich weist, mag das Widerspieldoch auch suggerieren, es wäre mit seiner Partitur so etwas wie der Blick aus dem Flugzeugfenster festgehalten worden: Die feineren oder grelleren Farbschattierungen und Strukturunterschiede der meist klar gegeneinander abgegrenzten, nur selten ineinander verfließenden Flächen bilden Grundmuster, aus denen sich scharf und schneidend die bestimmenden Lineaturen hervorheben. Der Variantenreichtum dieser Linienführung, die Wechsel- und Widerspiele, die raffinierten Anknüpfungen der beiden Solopartien und deren Einbettung in den immer wieder anders ausgewuchteten Gesamtklang sorgen für intellektuelles Vergnügen. Obwohl ihm der Begriff selbst obsolet erscheine, habe er, so Höller, nichts als ‘absolute Musik’ schreiben wollen.
Zusammengeführt wurde durch das Widerspiel, dessen Titel auf Hugo von Hofmannsthals Beschwörung der Herrlichkeit ‘von Musik und Algebra’ anspielt, schließlich das, was so lange als unauflösbarer Widerspruch galt, dessen schiere Existenz von einem Teil der Moderne geleugnet wurde. Nun aber, da mit der grundsätzlich durchgesetzten Pluralität auch die lässige Beruhigung eintrat, kann sich eine ganz aus den als garstig gebrandmarkten serialistischen Prinzipien berührende Arbeit als dergestalt ‘schön’, eigentümlich ‘harmonisch’ erweisen, daß die graumelierten Musikstudienräte in der Pause bedenklich die Köpfe wiegen und sich fragen, ob dergleichen denn ‘noch wirklich modern’ sei. Es ist. Freilich im Sinne einer Integrationsleistung, die nicht nur auf die Satztechniken von Boulez, Stockhausen und Bernd Alois Zimmermann reflektiert, sondern – bewußt oder unterbewußt vorsätzlich – etliche Gesten und manch formbildendes Charakteristikum der klassisch-romantischen Konzerte noch einmal aufgreift und alteriert – am hörbarsten bei den Eruptionen des Largamente und beim Übergang von diesem tief ausschwingenden Mittelsatz zum
Energico-Finale."
(Frieder Reininghaus, FAZ, 19.05.2000)