The Lyre of Orpheus
(Die Leier des Orpheus) (2005)perc(2-4):crot/tamb/SD/thunder;chimes/crot/tamb/SD/glsp/xyl;bar.chimes(ad.lib.)/BD/bells/tam-t;3timp(ad.lib.)/bar.chimes/susp.cym-str(6.5.4.4.2)
Abbreviations (PDF)
Sikorski
"Dieses Werk bildet den ersten Teil des Triptychons 'Nadejka' (I: 'Die Leier des Orpheus' für Violine, Schlagzeug und Streichorchester / II: ' ... The Deceitful Face of Hope and of Despair' für Flöte und Orchester / III: 'Das Gastmahl während der Pest' für Orchester).
Alle drei Werke eint eine gemeinsame Idee – die Übereinstimmung zwischen einem Intervall und dem von ihm erzeugten Differenzton.
Bekanntlich erzeugen zwei beliebige Töne, die gleichzeitig erklingen, zwei andere: einen Summations- und einen Differenzton. Dies ist eine zunächst rein akustische Tatsache. Sie kann jedoch latent auch kompositorisch ausgewertet werden. So erzeugt beispielsweise die kleine Sekund tief unten in der Kontraoktave einen Differenzton, der eigentlich kein Ton mehr ist, sondern eine rhythmisch-metrische Pulsation. Hören wir doch eine Frequenz von 20 Hz wie einen einheitlichen Ton. Danach kommt ein akustisches 'Niemandsland'. Ab 10 Hz wird ein Ton zu einer rein zeitlichen Abfolge von Impulsen. Schließlich lässt sich sogar ein imaginärer pulsierender Raum vorstellen, wo die Pulsation der Differenztöne den klingenden Intervallen entspricht.
Diese Pulsation ist natürlich innerhalb des uns zugänglichen Tonbereichs nicht hörbar. Doch sie existiert real, in der physikalischen Wirklichkeit. Und, projiziert auf den von uns wahrnehmbaren Tonbereich, bildet sich eine bestimmte Korrelation zwischen dieser Pulsation und dem klingenden Intervall, das den Differenzton erzeugt.
Dieser Umstand hat mich als Künstlerin sehr fasziniert, da man diese Übereinstimmung in einem künstlerischen Werk einerseits erleben kann als Metapher für einen tiefen Zusammenhang zwischen Prozessen, die in der Zeit ablaufen, und Prozessen innerhalb der Klangwelt, andererseits aber auch als ausgeprägten formgliedernden Faktor.
Als solche gliedernde Faktoren empfand ich zwei gleichzeitig erklingende Intervalle: eine kleine Sekund und eine reine Quint. Und ich suchte für diese Intervalle eine solche Tonhöhe, bei der ihre Differenztöne zu zwei verschiedenen pulsierenden Geschwindigkeiten führten, die eine metrische Einheit bildeten. Ich entdeckte dieses Phänomen nur in folgenden zwei Fällen:
Dabei zeigte sich, dass die Differenztöne dieser Intervalle im Verhältnis einer reinen Quint zueinander standen. Die sich ergebenden Differenztonpaare (im Raum einer Oktave zusammengefasst) liefern uns nun diese Tonfolge:
Ich war überrascht, dass meine spontane Suche nach einfachen, ganzen Tonverhältnissen innerhalb eines Tempos mich zum Akkord der sogenannten ‚Leier des Orpheus’ führte. Es sind dies die Grundintervalle des pythagoreischen Systems. Zugleich bilden sie eine 'Tetraktis' (das Zahlenverhältnis 6, 8, 9, 12) und damit eine Basisstruktur, von der sich Renaissance-Künstler wie Raffael begeistern ließen und welche die Grundlage der weiteren Entwicklung des europäischen musikalischen Dankens bildete.
Man nimmt gemeinhin an, dass die Saiten der Leier des legendären Sängers Orpheus in dieser Weise gestimmt waren. So ergibt sich der Titel meines Werkes. Es gibt darin drei Momente, wo die Saiten der Leier – d-a-e – als Unisono aller beteiligten Instrumente erklingen. Es ist, als ob die Saiten der Leier auf die Pulsation des Differenztones der vorhergehenden kleinen Sekunde antworteten und als ob die im imaginären Raum stattfindende Pulsation in dem uns zugänglichen Tonraum hörbar würde.
Darüber hinaus verwende ich die Übereinstimmung der pulsierenden Differenztöne und der diese erzeugenden Intervalle zur Markierung wichtiger Formmomente.
'Die Leier des Orpheu' ist ein Auftragswerk des Basler Festivals ‚les muséiques’ und wurde am 06. Juni 2006 durch Gidon Kremer, Andrei Pushkarev, Peter Sadlo und die Kremerata Baltica in Basel uraufgeführt."
„Die Leier des Orpheus“ bildet den ersten Teil des Triptychons „Nadejka“, das Gubaidulinas drei jüngsten Kompositionen zusammenfasst und ihrer im April 2004 verstorbenen Tochter Nadeschda gewidmet ist. Darin enthalten sind außerdem „... The Deceitful Face of Hope and of Despair” für Flöte und Orchester und das Orchesterwerk „Das Gastmahl während der Pest“. Unabhängig von der Triptychon-Idee sind diese Werke auch einzeln aufführbar.
Gidon Kremer / Marta Sudraba / Kremerata Baltica / Nicolas Altstaedt / Andrei Pushkarev / Rihards Zalupe / Rostislav Krimer / Chamber Choir Kamer / Maris Sirmais
ECM 4764662