Vexations and Devotions
(2005)Micheal Leunig, Dorothy Porter; zusätzliche Texte zusammengestellt vom Komponisten (engl.)
2(II=afl).picc(=afl).2.corA.2.bcl.dbcl.2.dbn-4.3.2.btrbn.1-timp(=1susp.chin.cym).perc(3): I=vib/glsp/5t.bells/SD/hi-hat/pedal BD/2tom-t/1susp.chin.cym/tam-t/wdbl; II=crot(2octaves)/gongspiel(1octave:C3-C4)/BD/bongos/tamb/rainmaker/1susp.cym(sm)/flexatone; III=marimba/glsp/tom-t/susp.cym/mark tree/whip/flexatone-2harp-pft(=cel)-MIDI kbd(+sound engineer)-strings(16.14.12.10.8; min.14.12.10.8.7); 2bn also play mouth organs; members of the choirs also play 6 tuned bells, 4 water gongs and 5 alu-foils
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Bote & Bock
Manche Projekte brauchen ihre Zeit, bis sie ihre endgültige Form erreichen. Vexations and Devotions entstand vor fünf Jahren in anderer Form bei der Zusammenarbeit an dem Projekt Parables, das auf Anregung von Richard Tognetti und dem Australien Chamber Orchestra ins Leben gerufen wurde. An Parables, einem Werk für Kammerorchester, Kinderchor und Elektronik, waren nicht weniger als fünf Komponisten beteiligt, von denen jeder seinen eigenen Zugang zu den Worten und Bildern von Michael Leunig, einem der meistverehrten visuellen Künstler, Dichter und Philosophen Australiens, gefunden hat. Aus meiner damaligen Zusammenarbeit mit Michael ging der Satz Bell and Anti-Bell hervor, der letztlich eine Art Katalysator für dieses neue Stück bildete.
Der erste Satz von Vexations and Devotions heißt Watching Others. Zu Beginn hört man eine dunkle, toccatenhafte Unruhe in den untersten Bereichen der Orchesterlandschaft, wenn das Klavier in tiefer Lage, Blechbläser, Cellos, Bässe und die männlichen Stimmen des Erwachsenenchors kollektiv murmeln und stöhnen; gelegentlich kommt Bewegung hinein, wenn die Klänge in höhere Bereiche vorstoßen. Nach dieser anfänglichen Aufregung im Orchester intoniert der Chor zunächst verhalten, dann leidenschaftlicher einen Text stiller Verzweiflung aus unseren Tagen: „The loneliness of watching others on television...“ Vor diesem Hintergrund entwickeln sich dann die weiteren Sätze dieser „soziologischen Kantate“.
Der Ausgangspunkt von Bell and Anti-Bell ist eine Prämisse, die charakterisch für Leunig ist: die durch die modernen Kommunikationssysteme herbeigeführte Entfremdung. Die elektronisch reproduzierte Stimme eines automatischen Telefondienstes steht dabei als einschlägiges Symbol für die wachsende Fremdheit zwischen den Menschen. Für Leunig trägt der Gedanke, jemanden zu bitten, „auf den nächsten freiwerdenden Mitarbeiter zu warten“, humorvolle und gleichzeitig dunkle und philosophische Dimensionen (Leunig selbst beschreibt es als Niedergang in Wahnsinn und Gefühlschaos). Das wird noch deutlicher, wenn diesen Ansagen vom Band eine ironische Lobeshymne gegenübergestellt wird, „Sweet Secret Peace“, die schwelgerisch die Schönheit eines neugeborenen Kindes besingt. Diese Hymne, gesungen vom Kinderchor, scheint uns zunächst in geistigere, sublimere Gefilde zu führen („real and right and true, how beautiful are you!“), bis sich herausstellt, dass es sich um eine der raffinierteren Warteschleifenmelodien der Maschine handelt. Schließlich verliert die Stimme ihren Halt und beginnt, sich selbst und alles um sich herum infrage zu stellen.
Im Laufe unseres Austausches darüber, wie man dieses Thema weiter entwickeln und vertiefen kann, schrieb mir Michael Leunig: „Der menschliche Geist kann zwar große Katastrophen und tragische Ereignisse überleben und am Ende sogar gestärkt aus ihnen hervorgehen, doch was dann letztlich einen Schutthaufen aus ihm macht, sind die erbarmungslosen, gleichgültigen und quälenden Banalitäten des modernen Lebens, dem wir uns fatalerweise angepasst haben – die hinterhältige, wachsende Ansammlung kleinlicher, tagtäglicher Seelentraumata, die den lebenswichtigen Fluss von Imagination und Bedeutung so zuverlässig durcheinanderbringen und behindern, wie Cholesterin die Arterien verstopft.“
Wir kamen überein, dass ein bedeutender Faktor, der diesen unterschiedlichen quälenden Tendenzen gemein ist, in der Erosion des Bewusstseins einer organischen Sprache liegt. So wie die Zusicherung der Stimme vom Band: „Ihr Anruf ist uns wichtig“ uns alles andere als zufrieden zurücklässt, so öffnet sich, wenn man die öffentliche Sprache in anderen Kontexten untersucht, eine bezeichnende Kluft zwischen den verwendeten Worten und der dahinterliegenden Bedeutung. So kommt es, dass ein anderer herausragender australischer Schriftsteller und Denker, dessen Werk eine bedeutende, wenn auch weniger unmittelbare Rolle bei der Entstehung dieses Projekts gespielt hat, Don Watson ist – ein früherer politischer Redenschreiber und Autor zweier sehr lesenswerter, unterhaltsamer und leidenschaftlicher Texte über den Verfall der öffentlichen Sprache, „Death Sentence“ (2003) und „Watson’s Dictionary of Weasel Words“ (2004).
In dem Vorwort zu dem zweiten Buch schreibt Watson: „Die Sprache im Informationszeitalter ist zu einem Werkzeug von Wirtschaft und Politik geworden. Doch sie kann eine solche Erfahrung nicht überstehen und gleichzeitig ihre Kraft zu amüsieren, zu verzaubern, zu erfinden, zu trösten behalten. Sie kann nicht Ideen und Gefühle tragen, die Kultur befördern und der höchste Glanz der Kultur sein. Sie kann nicht in erster Linie Werkzeug und in zweiter Linie Sprache sein.“
Das wurde der zentrale Impuls für die Idee, die den Keim des letzten Satzes, The Path to Your Door, bildete. In diesem Satz, dessen wesentliche Quelle sog. „weasel words“ bilden (Wörter, die die Sprache aushöhlen), wird eine typische Erklärung von Unternehmenszielen mit ihren hochfliegenden, aufgeblasenen Worten, die im Wesentlichen nichts außer einem Streben nach finanziellem Erfolg, wenn nicht gar unverblümte Gier bezeichnen („Unser Ziel ist, mit Nachdruck erstklassige und hoch effiziente Lösungen für innovative und marktgerechte Kundenzufriedenheit zu verfolgen“), der bissigen Schönheit von Leunigs Gedicht „The Path to Your Door“ gegenübergestellt („The path to your door is the path within...“), das der Kinderchor gegen Ende des Stücks singt. Das Feld wird nun den ausgedehnten Unternehmenserklärungen des Erwachsenenchors mit ihrem absichtlich bedeutungslosen Text überlassen, damit sie ihre geistlose Hymne über geschäftlichen Erfolg bis zur Vollendung treiben können. Den endgültigen Hintergrund bildet jedoch die direkte und unbedarfte Reinheit der Kinderstimmen. In dem Bemühen, Bedeutung wiederherzustellen, führen sie uns endlich zu einem Zustand echter, ergriffener Verwunderung über die Facetten und das Wesen der wirklichen Welt um uns herum.
© Brett Dean, Melbourne, Dezember 2005
Vexations and Devotions entstanden im Auftrag des UWA Perth International Arts Festival, des West Australian Symphony Orchestra, der BBC Proms und von Wesfarmers.
„Die drei Teile von Deans ‘soziologischer Kantate’ sind mit großer Sorgfalt und Erfindungskraft geschrieben... Bell and Anti-Bell beginnt mit Bratschen, die wie wütende Wespen um ein schneidendes Crescendo echter und synthetischer Glockentöne schwirren. Und dann eine Ansage, daß alle Leitungen besetzt sind und man uns dafür dankt, daß wir warten. Warten worauf? Die Stimme gewinnt für sich ein wildes Eigenleben, während Geigentremoli, geschüttel-te Alufolie und tickende Pizzicati vibrieren wie wunde Nervenenden... Ein Werk, das kunstvoll die Fähigkeit der Musik offenbart, zugleich zu spotten und zu klagen.“ (Hilary Finch, The Times, 24.07.2007)
„Der sonst häufig an zeitgenössische Musik gerichtete Vorwurf, sie habe nichts mit der Lebensrealität zu tun, trifft für dieses Stück jedenfalls nicht zu: Wie einst Mahler Naturlaute, so verschmilzt Dean hier Zivilisationstöne wie das Ansageband eines Anrufbeantworters mit einem hochkomplexen, verschiedene stilistische Ebenen virtuos ausbalancierenden Tonsatz. Eine aus Leerformeln bestehende Verlautbarung von Unternehmenszielen dient Dean dabei ebenso als Textvorlage wie existenziell tiefsinnige Gedichte von Michael Leunig – Kontraste, die der Komponist dann in seiner Musik ausformuliert. Quasisinfonisches Fernsehzappen mündet da in ein gequält-sakrales Chorgemurmel, ein verfremdetes Kinderlied kippt in ein apokalyptisches Klanginferno, als Schlußsatz schreibt Dean ein verstörendes Misterioso, wie ein Nachrauschen vergangener Zeiten. Musik als Zivilisationskritik, die aber deshalb funktioniert, weil sie autonome Kraft besitzt. Ein starkes Stück.“ (fab, Stuttgarter Zeitung, 15.03.2008)
BBC Symphony Orchestra and Chorus / Gondwana Voices / David Robertson
BIS-2016 (SACD)