Bote & Bock
"Offensichtlich, hiess es, litten sie an der Krankheit der Zeit. Sie verfügten zwar über ein reiches, unaufhörlich bewegtes Innenleben, aber zugleich über eine desto grössere Unfähigkeit zu Handlung und Beweglichkeit. So blieben sie, weit voneinander entfernt, in ihren leeren Häusern sitzen und schrieben sich, ohne sich je von der Stelle zu rühren, sehnsuchtsvolle und zärtliche Briefe, apokryphe Zettel. Sie schickten einander Liebesgaben und ersannen ein ganzes System geistreicher Anspielungen. Ohne je müde zu werden, fuhren sie mit der Arbeit fort, einzig von dem Wunsch getrieben, eine Begegnung herbeizuführen. Das war es, was sie einander unablässig versicherten, und noch als sie alt waren und als gekrümmte, vertrocknete Fossile über ihre Schreibtische gebeugt auf denselben Stühlen hockten, begannen sie jeden täglichen Brief aufs neue mit dem Ausruf : Ah, cher ami, wie schön könnte der Tag doch sein, heute, wo gerade die ersten Asphodelen im Garten aufbrechen, wenn Sie hier sein könnten und Ihre Gegenwart meine einsamen Stunden mit nie gekanntem Glanz erfüllte."
(Undine Gruenter, aus : Der Autor als Souffleur)
Das Stück entstand im Auftrag der Akademie der Künste Berlin, das Zuspielband wurde im elektronischen Studio der Akademie mit der technischen Hilfe von Georg Morawietz realisiert.
Annette Schlünz, August 2002
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