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Music Text

Michel van der Aa (engl.)

Scoring

0.0.1.1-0.1.1.0-perc(1)-strings(6.6.6.4.2)-soundtrack(laptop, 1 player)

Abbreviations (PDF)

Publisher

Bote & Bock

Territory
This work is available from Boosey & Hawkes in der ganzen Welt.

Availability

Uraufführung
20/10/2001
Donaueschingen
Barbara Hannigan, soprano / Radio Kamer Filharmonie / Peter Eötvös
Programme Note

Mit eiskalter Zielsicherheit wird ein Ast zerbrochen. Es scheint eine alltägliche Handlung mit einem alltäglichen Klang zu sein. Im Werk des Komponisten Michel van der Aa (1970) jedoch bedeutet der brechende Ast mehr. In einem musikalischen, nicht alltäglichen Kontext suggeriert dieser Akt urplötzlich Einsamkeit, Wahnsinn, Verbitterung. Und das dazugehörende krachende Geräusch, ist zwar ganz natürlich, hört sich aber mit geschlossenen Augen auch elektronisch an. Der Akt und das Geräusch sind vielschichtiger und aufgeladener, als es auf den ersten Blick scheint. Das macht den brechenden Ast zu einem Sinnbild für van der Aas Œuvre im allgemeinen und für die Here-Trilogie im besonderen.
Die Wechselwirkung zwischen natürlichen und elektronischen Geräuschen und eine visuell-theatralische Komponente sind immerwiederkehrende Konstanten in der Here-Trilogie, die van der Aa zwischen 2001 und 2003 komponierte. Thematisch ist der Zyklus verwandt mit seiner Kammeroper One (2002). In One begibt sich eine namenlose weibliche Figur (Sopran) mit Besessenheit auf die Suche nach sich selbst, und führt dabei einen Dialog mit ihrem Alter Ego auf Videoband. Im zweiten und dritten Teil der Here-Trilogie kehrt der Sopran zurück - in der gleichen hoffnungslosen Suche nach sich selbst und nach Anschluss an die Umwelt.
Sowohl One als auch, auf einer abstrakteren und musikalischeren Ebene, die Here-Trilogie verdanken ihre fesselnde, verstörende Wirkung einer in den Wahnsinn führenden Einsamkeit. Die Dramatik ist keine von außen aufgesetzte, jenseits der Musik liegende Idee, sondern ein Produkt der musikalischen Struktur. Nicht ohne Grund wird van der Aas Œuvre als musikalisches Pendant zum Werk M. C. Eschers gesehen. Eschers perspektivische Suggestionen und Manipulationen finden bei van der Aa ein musikalisches Gegenstück. Durch akustische Verformung entsteht ein vergleichbares Vexierspiel. In Oog (1995) wird eine Cellistin während ihrer Darbietung von ihren eigenen, auf Band aufgenommenen Klängen verschlungen. In Wake (1997) spielen ein Schlagzeuger und ein Schlagzeug ‘spielender’ Pantomime ein Duett.
"Die Gegensätze zwischen von Sein und Schein faszinieren mich", sagt dazu der Komponist. "Die Skulptur When I am Pregnant (1992) des englischen Bildhauers Anish Kapoor sieht von vorne aus wie eine flache Wand. Nur von der Seite sieht man den Bauch. In aller Schlichtheit entsteht hier ein extrem dramatischer Effekt. In meiner Musik strebe ich nach einer vergleichbaren Art von Dramatik."
Auch in der Here-Trilogie ist die Dramatik eine organische Folge von van der Aas musikalischer Poesie. Es wird Spannung erzeugt durch das hörbare Scheitern der Musik selbst, in der die musikalische Gegenwart (Live-Kammerorchester, oder Ensemble) mit der Vergangenheit (Soundtrack) zusammenprallt. Werkübergreifend führt dieses Scheitern des musikalischen Fortgangs zu einem Gefühl der Erstarrung, Entfremdung und Gespaltenheit, das nach dem rein instrumentalen ersten Teil Here [enclosed] eine Stimme bekommt in Here [in circles] und Here [ to be found].

Here [enclosed]
Ein mannshoher schwarzer Glaskasten steht als dominierender, aber stummer Partner auf der Bühne von Here [enclosed]. Was bedeutet dieser Kasten, welcher geheimnisvolle Inhalt verbirgt sich darin? Der Dirigent inspiziert zögernd die Kabine, aber die erklingende Musik des Kammerorchesters verbietet ihm, das Innere zu enthüllen. Solange der musikalische Prozess des ‘Einschließens’ noch nicht vollendet ist, muss auch die visuelle Auflösung warten. Erst am Ende erhellt sich der Kasten, und es wird, gleich einem "Deus ex machina", eine Frauengestalt sichtbar. Das Geheimnis wurde preisgegeben, jedoch nicht gelöst.
In seiner Here-Trilogie nimmt der Komponist Michel van der Aa den Zuhörer mit auf eine musikalische Entdeckungsreise in das Verhältnis, in die Konfrontation zwischen Individuum und Umwelt. Seine unwiderstehliche Faszination für theatralische und visuelle Mittel ist dabei nur eine der verschiedenen Konstanten. Eine individuelle harmonische Handschrift charakterisiert den sparsamen Umgang mit Material. Die harmonische ‘DNA’ der Here-Trilogie besteht in allen drei Teilen aus den gleichen elf Akkorden - sowohl im Orchester als im Soundtrack.
Das Eröffnungsstück Here [enclosed] ist mit seiner Besetzung für Kammerorchester und Soundtrack der abstrakteste Teil des Triptychons: Das dramatische Ich ist hier nur visuell - im Glaskasten - anwesend. Wo Individuum und Umwelt sich in Here [in circles] einschließen und in Here [to be found] anziehen und abstoßen, geht es in Here [enclosed] um einen instrumental durchgeführten Einschließungsprozess. Dies geschieht auf verschiedenen Ebenen. Der Soundtrack schnürt das Kammerorchester ein, indem er Aufnahmen von live gespielten Noten als Akkorde wiedergibt, die sich zu einem immer engeren Gewebe verdichten. Aber auch auf dem Mikroniveau, im Umgang mit Klangfarbe und der Entwicklung von einzelnen instrumentalen Linien nimmt der Druck weiter zu - bis die akustische Einschließung mit der Enthüllung des Kastens auch visuell einen Höhepunkt erreicht. Der Klang kann hörbar in keine Richtung mehr entweichen und das Individuum ist sichtbar eingeschlossen.
Van der Aa löst das so entstandene Vakuum auf, indem seine Musik im Epilog ihr Innerstes nach außen kehrt. Die Rolle des Soprans in Here [in circles] und Here [to be found] vorwegnehmend, erhebt sich die erste Geige als eine individuelle dramatische Entität aus dem gedämpft spielenden Streichorchester. Die Solo-Geige überstimmt das Kollektiv, dessen Teil sie zuvor war, und stellt sich dem Kampf mit den anschwellenden, immer bedrohlicher klingenden, rauschenden Klängen auf Band.
Die Wechselwirkung zwischen live gespielten Klängen (Mensch) und elektronischen (Maschine) wird konsequent und auffallend markiert durch grelle, grausam durch das Klangbild stechende Klick- und Schnappgeräusche. So offenbart van der Aa sein kompositorisches Skelett wie auf einem Röntgenfoto oder einer Blaupause, die permanent hinter der Musik aufscheinen.

Here [in circles]
Here [in circles] ist das Herzstück der Here-Trilogie. Sowohl, was den Charakter angeht, als auch bezüglich der Besetzung (fünf Streicher, Trompete, Klarinette und Bassklarinette, Perkussion und Sopran) ist es auch der zerbrechlichste, intimste Teil. Die Rolle des Soundtracks wurde reduziert auf die elementarste und spontanste Erscheinungsform, die möglich ist. Die Sopranistin bedient einen Kassettenrekorder, mit dem sie sich selbst und das Ensemble in real-time aufnimmt, vor- und zurückspult und abspielt, wodurch die zyklische Aussichtslosigkeit der Musik auch im kleinen Maßstab ausgedrückt wird.
Dass van der Aa sich dafür entschieden hat, die Texte der "dramatis persona" (Sopran) in Here [in circles] und Here [to be found] selbst zu schreiben, ist bezeichnend. Denn ein vorgefertigter Text würde den musikalischen Ablauf niemals so organisch widerspiegeln können wie selbst verfasste Sätze. Und gerade diese organische, untrennbare Einheit von Dramatik (Text) und Struktur (Musik) ist kennzeichnend für die Arbeitsweise van der Aas, die einer "auferlegten Emotionalität" in seiner Musik systematisch aus dem Weg geht.
Sowohl in Here [in circles] als auch in Here [ to be found] macht der Sopran eine Entwicklung durch. Inhaltlich gestaltet van der Aa seine Texte bewusst wirr, wodurch die beabsichtigte Stimmung entfesselten Wahnsinns um so stärker getroffen wird. Wörter werden als bildliche Tönung des Klangs eingesetzt, nicht als Träger einer wörtlichen Botschaft. "Musik hat die Kraft, nicht spezifisch zu sein", erläutert der Komponist. "Sie kann eine Atmosphäre suggerieren und Raum lassen für die Phantasie des Zuhörers. Je konkreter ein Text, desto weniger dreidimensional ist die Musik."
In Here [in circles] versucht das dramatische Ich (Sopran) aus dem zyklischen Ablauf der Musik auszubrechen. Der Kontakt zwischen dem extrem virtuosen, wie ‘getrieben’ singenden Sopran, dem Live-Ensemble, den Tonbandaufnahmen und einem Räderwerk von giftigen Klick- und Schnappgeräuschen (Schlagzeuger mit entkoppeltem ‘Fake’-Schalter) klingt abwechselnd bedrohlich und verinnerlicht. Die Musik erreicht erst am Schluss eine Art Ruhezustand, wenn die Sopranstimme in einen ergreifenden, schizophrenen Dialog mit ihrer eigenen Stimme auf Band tritt.

Here [to be found]
In der letztendlichen Reihenfolge schließt Here [to be found] (2001) die Here-Trilogie ab, aber chronologisch gesehen begann der Komponist sein Triptychon mit diesem Stück. Seine Ideendichte macht es unmittelbar plausibel, dass van der Aa nach Here [to be found] das Gefühl hatte, er könne das Thema ‘Individuum versus Umwelt’ in zwei weiteren Teilen ausbauen. Mit minimalen harmonischen Mitteln skizziert Here [to be found] eine höchst beklemmende Stimmung, die von dünnen Streicherakkorden eingeleitet wird.
Das unausweichliche Gefühl von Dramatik, das Here [to be found] erzeugt, ergibt sich in erster Linie aus dem Prozess von Anziehung und Abstoßung zwischen Sopran, Kammerorchester und Soundtrack. Wie auch später für Here [in circles] schrieb der Komponist den (hier ruhigeren, doch schmuckvollen) Text selbst, in dem die mäandernden Phantasien des emotional haltlosen dramatischen Ichs zum Ausdruck kommen. Sie sucht und findet Anschluss bei Orchester und Soundtrack, zieht sich jedoch danach nur allmählich immer weiter zurück in ihr eigenes Mikrouniversum. Nicht nur textlich, auch musikalisch entfernt sich der Sopran von den umgebenden Elementen. Die Entfremdung und Erstarrung, die van der Aa den Sopran durchleben lässt, vollzieht sich parallel auch in den Klängen. Van der Aa manipuliert den linearen Verlauf seiner Musik, indem er seine Musik zerschneidet und die Ausschnitte als Tonaufnahmen in verformter Gestalt zurückkehren lässt. So schafft er, vor- und zurückspulend, eine zusätzliche Zeitachse. Der Eindruck eines Vakuums, der entsteht, wenn die Musik auf solcherart ‘einfriert’ und wieder ‘auftaut’, illustriert und reflektiert die vom Sopran besungene Isolation und scheint zugleich eine abstrakte, strukturelle Entsprechung ihrer Stimmung zu sein. Der Sopran sucht singend nach einem neuen Ausgangspunkt, Soundtrack und Orchester tun dies ebenfalls. Auf diese Weise sind Struktur und Drama in der Here-Trilogie fortwährend untrennbar miteinander verbunden.

© 2004 Mischa Spel

Press Quotes

"Das Schönste dieser Musiktage... Die Musik fließt organisch, ist von schöner Einfachheit... eine reine Wohltat."
Stefan Hoffmann, Die Welt, 23. Okt. 2001

Recommended Recording
cd_cover

Claron McFadden / Netherlands Radio Chamber Orchestra / Etienne Siebens
DQM 02 www.disquietmedia.net

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