1. Symphonie "Die Stimmen von Chartres"
(The Voices of Chartres) (1998/99)3(III=picc).2.corA.2.bcl.2.dbn-4.3.3.0-timp.perc(3-4):crot/xyl/bell/Jap.tpl.glock/wdbl dr/tamb/gong/lg tam-t/BD-harp-pft-strings
Abbreviations (PDF)
Anton J. Benjamin / Simrock
Vielleicht ist die gotische Kathedrale in Chartres (in der Nähe von Paris) die schönste, bestimmt ist sie die geheimnisvollste. In ihrer Architektur, in den Skulpturen und in den Glasfenstern ist ein Welt- und ein Menschenbild verschlüsselt, das geeignet wäre, unsere heutige einseitige Ausrichtung auf Rationalität und auf die materiellen Seiten des Lebens zu korrigieren. Die Entschlüsselung von Chartres führt uns zu fast verschütteten geistigen Quellen des Abendlandes, und wir bemerken, daß die Geisteswelt Europas noch viele andere Facetten hat, und daß Chartres der Ort war, wo dies alles zusammengedacht werden konnte.
Wer glaubt, das Weltbild der „Schule von Chartres“ (eine Philosophenschule, die im Mittelalter dort wirkte) sei identisch mit der Lehre der Kirche, der irrt. Man mußte sich damals sehr vorsichtig ausdrücken, wollte man nicht als Ketzer angeklagt werden. Bevor die Kathedrale gebaut wurde, war dieser Platz bereits ein keltisches Heiligtum: eine heilende Quelle, wo eine Jungfrau-Göttin verehrt wurde, die später problemlos mit Maria identifiziert werden konnte. Viele Spuren gibt es in der Kathedrale, die auf die Integration der ursprünglich heidnischen Naturverehrung hinweisen, – die Idee eines Christentums, das seinen Frieden mit der Natur gefunden hat. Auch die – ja ebenfalls „heidnische“ – Antike wurde in Chartres studiert, wobei der Philosoph und Mathematiker Pythagoras einen bevorzugten Platz einnahm. Er entdeckte mit seinem Monochord (ein einsaitiges Instrument) die Obertonreihe, deren Töne in Proportionen zueinander stehen, die für den ganzen Kosmos grundlegend sind: die Idee einer kosmischen Harmonie (oder auch „Sphärenharmonie“). Religion und Wissenschaft existierten einträchtig zusammen, – wäre das heute wieder möglich?
Nicht vergessen dürfen wir, daß die Wissenschaft der griechischen Antike über den Umweg der arabischen Welt nach Europa zurückkam, besonders über das damals noch weitgehend islamische Spanien. Unendlich viel verdankt das Abendland der arabischen Welt: mehrere Musikinstrumente, die Technik, Rhythmen in Zahlenwerten zu messen, die Liebeslyrik der Troubadours, den Reim, und möglicherweise sogar den Spitzbogen als Bauelement der Gotik. In der Schule von Chartres wurden arabische Autoren gelesen, auch das war nicht ungefährlich. So wundert es vielleicht nicht, in der Kathedrale etliche Hinweise auf andere Kulturen und Religionen zu finden: Im ältesten Teil, der Krypta, ist ein Haus mit Pagodendach zu sehen, und eine Christusfigur mit einer Fingerhaltung, die man in Indien als „Mudra“ kennt. Man weiß, daß der Heilige Franziskus nach Afrika reiste, um dort von den islamischen Mystikern zu lernen, und offenbar gab es schon im Mittelalter Kontakt zu den Religionen des fernen Ostens. Wir begegnen in Chartres einem wahrhaft kosmischen Christentum, das seine Berührungspunkte mit anderen Religionen nicht verleugnet.
Das größte Geheimnis aber ist, daß die Kathedrale viel über die menschliche Seele erzählt, über ihre Verwandlungen, ihr Wachsen und Reifen. In diesem Zusammenhang wird oft von einem „Einweihungsweg“ gesprochen, auf dem der Mensch in seiner alten Gestalt stirbt und in einer neuen, verwandelt wiedergeboren wird. In Chartres wurde bereits die Idee einer menschlichen Entwicklung vorgedacht, dessen, was wir heute „Bewußtseinsevolution“ nennen. Hier liegt der tiefe Sinn des Mysteriums von Tod und Auferstehung.
Wie aber kann man das in Musik umsetzen?
Der erste Satz „Landschaft mit Kathedrale – Die Stimmen“ läßt aus der Atmosphäre der Landschaft ein Konzert all der Stimmen entstehen, die die Kathedrale geprägt haben:
– ein Reigen im 7/8-Takt, in einer Sprache, die die heidnische Naturverehrung heraufbeschwört;
– ein Bläserthema wie ein ferner Männerchor mit einem der Gregorianik nachempfundenen Thema als Stimme des Christentums, mit langen Borduntönen versehen wie in der byzantinischen Kirchenmusik;
– ein Thema, das die Obertonreihe durchschreitet, symbolisiert die Sphärenharmonie des Pythagoras und damit die griechische Antike;
– ein poetisches Flötensolo steht für die islamische Liebeslyrik, die immer mehr meinte als nur die irdische Liebe.
Nach jedem Thema wird das ältere Material miteinbezogen, ein kontinuiertliches Wachsen. Um auf das seelische Geschehen im zweiten Satz vorzubereiten, folgen noch zwei Themen, die sich auf die beiden Gestalten beziehen, denen die Kathedrale geweiht ist:
– das Posaunen-Thema Johannes des Täufers; und
– das Rosetten-Fenster mit Maria im Zentrum: ein der Renaissance nachempfundener Bläsersatz, der von vielen Streicherstimmen umspielt wird.
Im zweiten Satz „Innenraum – Der Weg durch zwei Zeiten“ nähern wir uns der Kathedrale und betreten, nach einer längeren Einleitung, den Innenraum. Dieser Satz verdankt seine konkrete Gestalt einer weiteren Anregung: dem Sakramentsaltar von Rogier van der Weyden, der eine ausdrucksvolle Kreuzigungsszene in einer gotischen Kathedrale darstellt. Hier findet sich das Grundmodell: das persönliche subjektiv-menschliche Erleben in einem überpersönlichen, gleichsam objektiven Raum.
Musikalischer Statthalter des Kreuzes ist der gregorianische Hymnus „Crux fidelis“, der gleich zu Beginn der Einleitung in den hohen Bläsern vorgestellt wird. Es folgen im Innenraum dann zunächst das „menschliche Thema“ in den Streichern und das dämonische Gegenthema seines „Schattens“ (im Sinne des Psychologen C.G. Jung), denn jedes menschliche Wachsen erfordert die Begegnung mit den eigenen dunklen Seiten. Ein drittes Thema rundet den ersten Teil ab. Dann beginnt der „Weg durch zwei Zeiten“: Der überpersönlich Raum wird repräsentiert durch Variationen des Hymnus „Crux fidelis“, deren Tempo immer gleich langsam bleibt, und deren ritueller Charakter durch Techniken aus Musik anderer Kulturen verstärkt wird: die erste Variation in hoher Lage benutzt fernöstliche Ornamentierungstechniken, die zweite, in tiefer Lage, läßt Klangwelten des tibetischen Buddhismus anklingen, die dritte greift auf byzantische Musik zurück.
Zugleich mit dieser stets langsamen Schicht entfaltet sich eine symphonische Durchführung mit vielfältigen Ausdrucksformen der einzelmenschlich-persönlichen Sphäre, dort wird das Tempo, dem Ausdruck entsprechend, immer schneller, kulminierend in Todesangst und der Begegnung mit den Dämonen. Die Verwandlung, die innere Gelassenheit und Ruhe dessen, der durch diese Erfahrung hindurchgegangen ist, verdichten sich am Ende in einer Paradies-Vision, die durch Klangwelten des japanischen Zen-Buddhismus charakterisiert ist. Gleichsam ins Unendliche entschwebend, klingt die Symphonie aus. (Wolfgang-Andreas Schultz)
"... ein dichtes Netz kultur- und religionsgeschichtlicher Beziehungen... Schultz schafft es, in seiner Musik jeden Anschein stilistischer Buntheit oder plakativen Historisierens zu vermeiden. Sie gibt sich nicht avantgardistisch, ist aber durchaus neu im Sinne subjektiv-originellen Gebrauchs zeitgenössischer Stilmittel und Techniken. Sie ist bemerkenswert ausdrucksstark und – da voller Absichten – richtig mitteilsam. Das provoziert vielerlei Spannungen und Spannendes; es fordert und fördert Aufmerksamkeit, veranlasst zu wachem Verfolgen der sehr differenzierten, kompositorisch wie gedanklich sehr dichten, assoziativ bedeutungsvollen musikalischen Abläufe. Will sagen: das Stück ist einfach gut gemacht; es klingt, und es beeindruckt!" (Ekkehard Ochs, Ostsee-Zeitung, 01.10.2004)