Bote & Bock
Der Besucher der Idylle (5'15)
Der Eremit am Wasser (4'00 )
Der Affenspieler (4'26 )
Die Hirtenflöte (5'21)
Die Chinesischen Bilder für Flöte(n) solo (1993) entstanden im Auftrag des und zur Uraufführung durch den Blockflötisten Walter van Hauwe, doch wünschte Yun auch die Aufführung durch Querflöten. Die vier Stücke, die Yun im Juni 1993 in Hohegeiß im Harz komponierte, kennzeichnet die reduzierte Faktur seines Spätstils, die Erinnerung an Idiome verschiedener ostasiatischer Flötentypen und Flötenmusik sowie eine buddhistische Programmatik. Konsequent beschränkt Yun sein Material: Alle Stücke sind durch Verfahren der entwickelnden Variation und kontrastierenden Ableitung aus zwei- bis dreitönigen motivischen Zellen hervorgegangen.
Der Titel des Zyklus – vor allem aber IV. Die Hirtenflöte – ist inspiriert von den in Ostasien in zahlreichen Varianten kursierenden Bildzyklen und damit verknüpften parabelhaften Texten vom Hirten und seinem Ochsen, womit der Mensch und seine inneren Widerstände bezeichnet werden. Den beiden ersten Stücken gemeinsam ist die kontemplative Grundhaltung sowie die spiralartige Dramaturgie des nach oben gewölbten Halbkreises, dem archetypischen Symbol für den Himmel. Gegensätzlich sind jedoch die motivischen Zellen: Größere Intervalle lassen in I. Der Besucher der Idylle den Einzelton klarer hervortreten, während der auf zwei Töne in engem Abstand aufgesplittete "Hauptton" im zweiten Stück, Der Eremit am Wasser, ein weicheres Klangbild evoziert, das die Auffassung des Tons als "Pinselstrich" deutlicher widerspiegelt. Das dritte Stück, Der Affenspieler, ist bezogen auf den koreanischen Vorläufer des No-Spiels und auf die hohe No-Flöte, die insbesondere bei dem Auftritt des Shite, der aus dem Jenseits heraustritt, eingesetzt wird.
Der Titel des ersten Stücks lautete im Autograph noch Der Besucher der Eremitage und verweist auf eine buddhistische Einsiedelei. Der Besucher dieser Idylle ist der Bauer, der dort seinen Ochsen ans Wasser führt, um ihn zu tränken. Auf die Fortsetzung dieses Bildes spielt das zweite Stück an, Der Eremit am Wasser. Der Hauptton wird hier heterophon aufgespalten und besteht zunächst aus einer engmaschigen tremolierenden Intervallzelle, die das Wasser charakterisiert, während der die Phrase beschließende lange Ton vielleicht den Menschen meint, der es betrachtet. Die Phrasen wandern höher; eine subtile, innere Dramatisierung setzt ein, die zweitönige Intervallzelle wird sehnsüchtig klagend gespreizt. Der Eremit am Wasser ist das wehmütigste der Chinesischen Bilder; deutlicher als in den anderen Stücken erscheint hier Yuns Sehnsucht nach der verlorenen Heimat.
Der Titel des vorletzten Stücks Der Affenspieler verweist auf eine szenische Vorstellung, der ursprünglich die Vorführung einer Affendressur zugrunde gelegen haben soll, vor allem aber auf eine volkstümliche altchinesische Theaterform. Hervorgegangen ist das "Affenspiel" aus der Gattung der "vermischten Spiele" (chines.: san-yüeh; korean.: san-ak; jap.: san-gaku), die über Korea nach Japan gelangten. Dort kennt man das "Affenspiel" als saru-gaku und daraus entwickelte sich saru-gaku-nô, eine Vorform des Nô-Theaters, bei dem der Flöte eine zentrale Rolle zukommt. (Saru bedeutet "Affe", ist jedoch – worauf bereits Zeami, der Teoretiker des Nô, zu Beginn des 15. Jahrhunderts hingewiesen hat – phonetisch gleichlautend mit "Offenbarung", und aufgrund dieser phonetischen Beziehung gilt der Affe auch als Sprachrohr der Götter. Gaku meint "Musik" und nô schlicht "Fertigkeit".) Yuns Affenspieler scheint an eine szenische Vorstellung anzuknüpfen und ist doch vom Klang der Nô-Flöte inspiriert. Im Unterschied zu den übrigen Stücken sind hier verschiedene, schnell wechselnde Rhythmen charakteristisch sowie Kontraste zwischen einer lebhaften, auf engem Raum kreisenden Gestik einerseits und ruhigeren Passagen mit weit ausgreifenden Intervallen andererseits.
Anders als in den vorangegangenen Stücken zeigt IV. Die Hirtenflöte eine invokative Gestik, die im Insistieren auf lang gezogenen Einzeltönen und mit der in die Höhe, gen Himmel gerichteten Gesamtform Freiheit und spirituelle Befreiung meint. Das sechste Kapitel der Zen-Geschichte Der Ochs und sein Hirte heißt Die Heimkehr auf dem Rücken des Ochsen und bedeutet einen bestimmten Bewusstseinszustand, bei dem Ochs und Hirte vereint sind: "Der Kampf ist schon vorüber. Auch Gewinn und Verlust sind zunichte geworden. Der Hirte singt ein bäurisches Lied der Holzfäller und spielt auf seiner Flöte die ländliche Weise der Dorfknaben. Er sitzt auf dem Rücken des Ochsen und schaut in den blauen Himmel. Ruft ihn einer an, so wendet er sich nicht um. Zupft ihn einer am Ärmel, so will er nicht halten" (zit. nach der Übersetzung von Kôichi Tsujimura und Hartmut Buchner, Pfullingen: Neske 31976, 33).
Walter-Wolfgang Sparrer
Roswitha Staege (flute & alto flute)
Internationale Isang Yun Gesellschaft IYG 001