Drei Wasserspiele
(Three Water Plays) (1986-1995)Libretto von Thornton Wilder; deutsche Version von Herbert Herlitschka (dt., engl.)
S,T,Bar;
fl.cl-hn-perc(1)-gtr-pft(=cel)-vla.vlc.db
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Bote & Bock
Detlev Glanerts Denken in theatralischen Kategorien zieht ihn immer wieder zur Oper, für die ihm Mozart, Verdi und Puccini die herausragendsten Vorbilder sind. Sein ausgeprägter Sinn für die Organik musikalischer Zeitabläufe, für den Atem eines Werkes, findet in der szenischen Gestaltung erst sein eigentliches Betätigungsfeld. In seinen Werken für das Musiktheater bevorzugt er Sujets, in denen archetypische Situationen in historische oder geografische Ferne gerückt werden, damit ihre aktuelle Gültigkeit aus der Distanz umso deutlicher wird. Es ist das Artifizielle solcher Sujets in Verbindung mit den suggestiven Mitteln des Theaters, das, zusammen mit Glanerts Gespür für gesangliche Linien, für musikalische Charakterisierung und nicht zuletzt für farbliche Klangwirkungen, den Reiz dieser Stücke ausmacht.
Nach den historisch-märchenhaften Stoffen seiner beiden Opern Leyla und Medjnun op. 16 (1987–88) und Der Spiegel des großen Kaisers op. 24 (1989–93) greift Glanert auch in seiner dritten Arbeit für das Musiktheater den Drei Wasserspielen, deren erster Teil bereits 1986 entstand, auf Sujets zurück, in denen sozusagen modellhafte Situationen wie in einem Experiment vorgeführt werden. In Thornton Wilders Dreiminutenspielen fand Glanert Textvorlagen, in denen sich kalkulierte Künstlichkeit und atmosphärischer Zauber in ähnlicher Weise verbinden wie in seiner Musik. Die gleichbleibende Personage der Stücke sowie ihre Kürze legten zudem die Form der Kammeroper nahe, bei der die Personen wie unter einer Lupe agieren. Es sind Versuchsobjekte, die gleichwohl so nahe sind, dass sie die Identifikation herausfordern. Die künstlichen Mechanismen reagieren zutiefst menschlich.
Ähnlich wie Giacomo Puccinis Il trittico vereinigen auch die Wasserspiele drei Stücke sehr unterschiedlichen Charakters, die die drei Grundhaltungen des klassischen Theaters – jedoch in gegenseitiger Brechung – repräsentieren: Schrecken, Trauer, Spaß. Die Stücke sind weder durch die Zeit, noch durch den Ort verbunden: Leviathan op. 10 (1985–86) spielt in der Renaissance auf dem Mittelmeer, Der Engel, der das Wasser bewegte op. 30 (1994) greift auf die biblische Legende des heilenden Teiches von Bethesda zurück und ist zeitlich unbestimmt, Der Engel auf dem Schiff op. 31 (1994) versetzt die Szene auf den Atlantik in den 1920er Jahren. Entsprechend unterscheiden sich auch die Sprache und die Musik, die der jeweiligen Szenerie ihre spezielle Farbe verleihen.
Doch stärker als bei Puccini bilden nicht nur Form und Besetzung, sondern auch zahlreiche gemeinsame Motive einen engen inneren Zusammenhang der Stücke. Das Wasser ist das zentrale Element, dessen tradierte mehrdeutige Symbolik die Aspekte der Reinigung, der Bedrohung, des Todes, der Heimkehr und der Auflösung umfasst. Auch das Motiv der Hoffnung erscheint in allen Stücken hervorgehoben: im ersten Stück die Hoffnung des Prinzen auf Rettung und die der Seejungfrau Brigomeide auf eine menschliche Seele, im zweiten die Hoffnung auf Heilung, und im dritten wiederum die Hoffnung auf Rettung aus Seenot. Eine wichtige Rolle spielt weiterhin das Verhältnis von Realität und dem Irrealen in den Gegensätzen von Mensch und Fabelwesen, Mensch und Engel, Mensch und Götzenbild. Schließlich gibt es in allen drei Stücken abwesende Personen, von denen nur gesprochen wird, die aber wie der geheime Motor der Handlungen wirken: der herbeigesehnte Lautenspieler Amadeo, die kranken Kinder des »Selbstgetäuschten«, das ungesühnte Opfer der drei Schiffbrüchigen.
Analog zu dieser dichten dramatischen Motivik liegt auch der musikalischen Disposition ein strenges Prinzip zugrunde, das den drei Kurzopern gemeinsam ist und das die Ordnungsfunktion der Zahl 3 auf alle Ebenen ausdehnt. Der Sängerbesetzung Sopran, Tenor, Bass entspricht eine kleine Orchesterbesetzung aus drei Instrumentalgruppen zu je drei Instrumenten: Flöte / Klarinette / Horn, Klavier / Schlagzeug / Gitarre und Viola / Violoncello / Kontrabass. Zuweilen lässt sich eine Zuordnung der Gruppen zu einzelnen Personen erkennen; so werden im Leviathan die Bläser mit der Meerjungfrau identifiziert, die »menschlichen« Stimmen der Streicher gehören dem Prinzen, und perkussive Klänge begleiten das Meeresungeheuer. Jede der drei Opern wird mit einem Streichersolo eröffnet: Im Leviathan ist es das Cello, das die Hilfeschreie des Prinzen nachahmt, im Engel, der das Wasser bewegte illustriert die Bratsche die geheimnisvoll-schläfrige Stimmung am Teich, und im Engel auf dem Schiff schildert der Kontrabass mit rauen Klängen den ruinösen Zustand der Schiffbrüchigen während des Sturms. Die instrumentalen Vorspiele münden jeweils in einen Vokalisenchor, in dem die Protagonisten noch ohne Identität sind und nach dem sie erst allmählich auch musikalisch in ihren Rollen charakterisiert werden.
Betrachtet man die Stücke jedoch in ihrer Abfolge, dann zeigt sich ein interessanter Wechsel im Verhältnis dieser motivischen Konstanten, bei dem sich dem Triptychon eine deutliche Kreuzstruktur überlagert: Im ersten Stück werden Hoffnungen enttäuscht: Für den Prinzen bleibt die Rettung aus, Brigomeide wird niemals in den Genuss einer menschlichen Seele kommen, Leviathan muss in vergifteten, wenngleich nahrungsspendenden Gewässern leben. Die Unerfüllbarkeit ihrer Hoffnungen ist eine Konsequenz aus der Tatsache, dass sich jeder – gerade auch in Erkenntnis der Unvollkommenheit seiner Existenz – treu bleibt. Am See von Bethesda herrscht die Hoffnung auf Heilung. Einer Person, der »Selbsgetäuschte« genannt, wird die Heilung gewährt. Doch sein Leid – eine kranke Hand – steht in keinem Verhältnis zum grenzenlosen seelischen Leid des »Letztgekommenen«, der nicht in den Genuss der Heilung kommt. Der »Selbstgetäuschte« wird gesund, um sein falsches, materiell orientiertes Leben ungestört fortsetzen zu könne; der »Letztgekommene«, ein Arzt, bleibt krank, weil die Einsicht in seine eigene Krankheit ihn befähigt, ein richtiges und für andere hilfreiches Leben zu führen. Für die Schiffbrüchigen erfüllt sich die Hoffnung, nachdem sie den »Engel auf dem Schiff« angebetet haben. Doch ihre Rettung ist eine Farce, da sie um den Preis der Wahrheit geschieht; hastig beseitigen sie die Spuren ihrer kurzfristigen Einsicht in das Elend ihres Lebens.
Ein ähnlicher Austausch der Pole findet im Hinblick auf die Schauplätze statt: Das erste Stück spielt im Wasser, und das Wasser bedeutet hier Tod und Auflösung. Die Grenzen zwischen Leben und Tod sind verwischt. Im zweiten Stück befindet man sich am Ufer eines Gewässers, das Heilung von Krankheit verspricht. Leben und Tod stehen sich gegenüber. Die drei Seefahrer im letzten Stück sitzen – durchaus auch im umgangssprachlichen Sinn – »auf dem Trockenen« ihres Schiffswracks, und sie verneinen den Tod. Daneben aber ist von anderen Schauplätzen die Rede, an denen sich die abwesenden Personen befinden. Der Lautenspieler Amadeo, der bezeichnenderweise in Venedig lebt und den der Prinz in seiner Not anruft, würde Rettung bedeuten. Die Kinder des »Selbstgetäuschten« sind selbst krank und werden voraussichtlich vom Arzt geheilt werden. Der ermordete Kapitän, dem man absichtlich das Trinkwasser vorenthielt, der Onkel in Amsterdam, von dessen Ableben sich der skrupellose Leichtmatrose einiges verspricht, der Portugieser, den der Schiffskoch einst beraubt hatte – sie alle schließlich stehen für verdrängte Schuld und Tod. Während also die realen Schauplätze den Bogen von Tod über Krankheit als Grenzsituation bis hin zu Rettung schlagen, gehen die imaginären Schauplätze den umgekehrten Weg.
Mit dieser Entwicklung verändert sich nun auch das Verhältnis der Realitätsebenen. Im Leviathan stehen sich Mensch und Meerwesen als unversöhnliche Gegensätze gegenüber. Eine Verständigung ist nicht möglich, weil beide grundverschiedenen Welten angehören; daher gibt es auch keine Rettung. »Der Engel, der das Wasser bewegte« sagt zum Arzt, dem er als einzigem sichtbar wird: »Die Engel selbst vermögen die Erdenkinder nicht zu überzeugen, wie ein einziger Mensch es vermag, den die Räder des Lebens gebrochen haben.« Hier besteht eine Dialektik zwischen den beiden Welten: Die Verständigung gelingt nur deshalb, weil der Arzt eine Gemeinsamkeit, die heilende Kraft, mit dem Engel hat. Er selbst kann retten, doch er kann nicht gerettet werden. »Der große Gott Lilli«, die Galionsfigur, zu der die Schiffbrüchigen beten, ist hingegen eine bloße Projektion ihrer eigenen Misere und insofern ebenso äußerlich, wie es Brigomeide gegenüber dem Prinzen ist. Doch im Augenblick der Rettung wird sie zum unerträglichen Spiegelbild, das den guten Ausgang gefährden könnte.
Der Angel- und Kreuzungspunkt der Wasserspiele ist somit das mittlere Stück mit seinem offenen Schluss, in dem es zu einer Korrespondenz zwischen Realität und Fantasiewelt kommt. In diesem Stück zeichnet Glanerts Musik, vor allem in den expressiven Linien des Arztes, am deutlichsten die Seelenzustände der Personen nach. Dagegen zeigt sich die tatsächliche oder vermeintliche Trennung der Sphären auch musikalisch im ersten und dritten Stück in einer gewissen Distanziertheit des Stils. Im Leviathan ist die Musik eher Inszenierung als Psychologie; sie bildet die Wasserbewegungen nach und begleitet Brigomeide mit gezierten Figuren der Bläser; das Auftreten Leviathans ist von einer grotesken, polternden Polka grundiert, und die sich abspielende menschliche Tragödie wird mit bemerkenswert kühler Unbeteiligtheit kommentiert. Die entäußerten Träume und Wünsche im Engel auf dem Schiff finden ihre musikalische Entsprechung nicht zuletzt in den stilisierten Topoi der Unterhaltungsmusik wie Charleston, Tango und Rumba, zu deren Rhythmen die drei Protagonisten ihre Gebete herunterleiern. Die überstürzte Hast des Schlusses dieser letzten Oper wirkt komisch und desillusionierend zugleich.
In seinem Vorwort zu den Dreiminutenspielen schrieb Thornton Wilder: »Ein Künstler ist ein Mensch, der weiß, daß er im Leben versagt, und der seine Reue nährt, indem er etwas Schönes macht; und ein Laie ist ein Mensch, der den Verdacht hegt, im Leben zu versagen, sich aber mit seinen Erfolgen im Golfspiel, in der Liebe oder im Geschäft tröstet.« [Einakter und Dreiminutenspiele, FfM 1968, S. 9ff.] Hier haben wir den Kern der Wasserspiele ausgesprochen: Rettung aus der Fremdheit des Lebens ist nur möglich um den Preis der Selbsttäuschung, aber die absurde Schönheit des künstlich Geschaffenen liefert die Gewissheit, dass immer wieder etwas entstehen kann, das eigentlich nicht in diese Welt passt, in ihr aber trotzdem seinen Platz findet. Dass es sich bei den Wasserspielen um vollkommen artifizielle Gebilde handelt, verleugnen weder Thornton Wilder noch Detlev Glanert. Das desillusionierende und dennoch märchenhafte Theater Wilders findet in Glanerts sinnlicher und zugleich unsentimentaler Musik eine Intensivierung. Glanert ist ein Klangmagier, der uns den Blick in sein Labor nicht verwehrt. Wir wissen, ja wir werden sogar noch darauf hingewiesen, dass hinter dem Zauber der Klänge eine ganz und gar unromantische Maschinerie und ein solides Handwerk wirksam sind. Und dennoch lassen wir uns gern verzaubern und fühlen uns nicht einmal betrogen. Denn hier liegt der Freiraum, wo sich Brigomeide und der Prinz begegnen könnten, wo sich die Schiffbrüchigen im Spiegelbild der Galionsfigur erkennen könnten, wo der Arzt zum Verbündeten des Engels wird. In solchem Freiraum verliert die Fremdheit des Vertrauten ihre Bedrohlichkeit, und in der Synthese von Realität und Fantasie wird man der Verrücktheit gewahr, in einer Welt leben zu können, die immer rätselhaft bleiben wird und trotzdem Heimat ist.
Klaus Angermann
Für Informationen zu den einzelnen Werken siehe:
> Leviathan
> Der Engel, der das Wasser bewegte
> Der Engel auf dem Schiff
"Ähnlich wie Puccinis Trittico vereinen auch die Wasserspiele drei Stücke unterschiedlichen Charakters. Musik und Sprache verleihen der jeweiligen Szenerie ihre spezielle Farbe... Glanerts Musik sucht nicht um jeden Preis das schockierend Unbekannte, wirkt vielmehr sehr suggestiv, baut in starkem Maße auf Ausdruckskraft." (Ulrich Bohn, Deutschlandradio Berlin, 23.05.1995)
"Vielleicht liegt die so unmittelbare Wirkung der Werke darin, daß Glanert auf eine ganz direkte, zutiefst ehrliche Weise mit der Musik, den Instrumenten, den Stimmen umgeht... Hier stellen die Sänger ihre Stimmen in zum Tiel wunderschönen Kantilenen aus, entwicklen die Instrumentalisten Expressives ganz aus dem Klangcharakter ihrer Klarinette, ihres Cellos, ihres Kontrabasses. Geistreiches Kammerspiel, fast möchte man sagen: in der Tradition einer Ariadne. Dabei erhält jedes der drei Stücke seine ganz eigene musikalische Ausdruckskraft: artifiziell-distanziert der Duktus des Renaissancemärchens vom Leviathan, schmerzvoll-psychologisierend die Beschreibung der Seelenzustände der Heilungssuchenden in der biblischen Legende des Mittelteils, beklemmende Komik schließlich durch des Einbezug von Unterhaltungsmusik in Gebetsrituale beim Satyrspiel der Schiffbrüchigen-Episode. Variabel das alles, und doch von einer eigenen gestalterischen Handschrift zusammengehalten." (Gerhart Asche, Opernwelt Juli 1995)
"Wollte man jemanden erfahren lassen, was ‘Geste’ in der Musik bedeutet, wäre Glanerts Musik, auch die der Drei Wasserspiele, zum einfühlenden Hören denkbar gut geeignet. Sie ist gestisch an sich: in der Körperlichkeit ihrer großen Aufschwünge (dem Überschwang!), in der faßbaren Plastizität und dem ausgeprägten Bewegungscharakter aller ihrer Parameter." (Günter Matysiak, Das Orchester 9/1995)