Bote & Bock
Im Unterschied zum lyrischen Quintett für Klarinette und Streichquartett Nr. 1 (1984), das Isang Yun einmal als "Lied ohne Worte" bezeichnete, entfaltet das zehn Jahre später komponierte zweite Werk dieser Besetzung einen konzertant-kraftvollen Charakter. Wie schon das 1. Klarinettenquintett und auch das Konzert für Klarinette und Orchester (1981) ist es inspiriert von den spieltechnischen Fähigkeiten seines Widmungsträgers, des Klarinettisten Eduard Brunner.
Wesentlich wurden aber auch Ort und Zeitraum der Komposition sowie der Ort, an dem das Werk erstmals erklingen sollte. Das Auftragswerk des International Music Festival in Kitakyushu / Japan entstand vom 27. Sept. bis zum 8. Okt. 1994 in Hohegeiss im Harz. Die herbstliche Landschaft dieses Erholungsgebiets, die Farbenpracht der Bäume war, so Yun, eine weitere Inspirationsquelle. Unvergessen seien ihm aber auch Bilder aus seiner Jugend gewesen: Als er – erstmals als Sechzehnjähriger – zum Musikstudium nach Osaka in der Nähe von Kitakyushu in einem Zug entlang der Meeresküste gereist sei, habe er dort bei Nachtfahrten die Spiegelung des Mondes auf dem Wasser bewundert und bei Tagesfahrten die Herbstlandschaft mit Obstbäumen, deren pampelmusenartige gelbe Früchte, wenn sie reif genug waren, herabfielen. Die koloristische Vielfalt seiner unmittelbaren Gegenwart im Harz und die "etwas nostalgischen" Jugenderinnerungen habe er in dieser Komposition "spannungs- und kurvenreich" sowie "montageartig" verwoben.
Das Klarinettenquintett Nr. 2 gehört zur Gruppe der drei letzten Werke des Komponisten, die nach einer krankheitsbedingten Schaffenspause im Herbst 1994 entstanden. Die vorgezogene Uraufführung bei den Berliner Festwochen am 26. September 1995 wurde gestattet, damit Yun das Werk noch einmal hören und mit den Interpreten – Eduard Brunner und dem Sibelius-Quartett aus Helsinki – proben konnte.
Die drei Teile des äußerlich einsätzigen, rund zwanzigminütigen Werks folgen der Dramaturgie schnell (5/4-Takt) – langsam (6/4-Takt) – schnell (4/4-Takt). Im Vordergrund steht der Solopart der Klarinette; das Streichquartett bildet eine obligate Begleitung. Konstitutiv für das Klangbild ist im ersten Teil gleichwohl der Wechsel des Pizzikato- und Legato-Gestus der Streicher. Allgemein charakteristisch ist die Tendenz zum Unisono, die ideelle Einstimmigkeit, ferner das Gleiten über Zentraltöne, die durch flexible und zum Teil allusionshaltige Klanggesten dekorativ umspielt werden.
Nostalgisch-Ostasiatisches zeigt die konsequente Pizzikato-Idiomatik des Beginns: Aus dem Unisono eines tonleiterartigen Aufwärtsgestus des Streichquartetts erwächst das Klarinettensolo mit einer in engmaschigen Intervallen weite Distanzen überbrückenden Auf- und Abwärtsbewegung. An dessen Höhepunkt erklingt wie ein Sehnsuchtslaut ein langgezogener Ton. Eine weitere Klanggeste der Klarinette ist der zielende Anschwung zum ebenfalls lang ausgehaltenen und repetierten Zentralton (cis2) hin.
Ab Takt 17 – Yun wurde am 17. Sept. 1917 geboren – erscheint der Legato-Gestus der Streicher wie ein zweiter thematischer Gedanke, der auf Yuns Gegenwart zum Zeitpunkt des Komponierens bezogen werden kann. Das Bestreben um eine kontinuierliche Ton-Höhen-Bildung durch Umkreisen der Zentraltöne f2 und cis2 scheitert, mündet in die Tiefe (fis bzw. e).
Bei der variativen Umgestaltung dieses exponierenden Prozesses (ab Takt 34 = 2 x 17) vertauscht Yun dann auch die Abfolgen: Auf den integrativen Prozeß eines kontinuierlichen Aufwärtsgleitens in Halbtönen (ausgehend von cis2) folgen weiträumige, dann wieder dichtere Umspielungen dieses Zentraltons. Oktavsprünge über cis intensivieren in der Schlußphase des ersten Teils die extremen Lagenwechsel, die für den Komponisten Entzweiung oder Zerrissenes symbolisieren.
Dem konflikthaft Bewegten setzt Yun zwei Stadien der Beruhigung entgegen, in denen das Wellenartige des ersten Teils in den Umrissen noch nachhallt: zuerst mit einer sangbaren Melodik um a und cis1, sodann in einer längeren zweiten, in sich dreiteiligen Insel der Ruhe (6/4-Takt).
Mit einem Minimum an Tönen beginnt die Klarinette hier in der Tenorlage, dem Chalumeau-Register, einen rezitativischen Monolog und setzt diesen – sich selber antwortend – in der himmlischen Sopranlage fort. Die erste Violine greift diesen Tonfall in mittlerer Lage auf, bis ihn die Klarinette, zunehmend reicher ornamentiert und belebt, weiterführt. Der bewegte, trioartige Mittelteil zeigt in diesem langsamen Satz Nostalgisch-Westeuropäisches in motivischen Anspielungen, darunter einem kurzen, an Brahms erinnernden Motiv.
Aufbruch und Neubeginn signalisiert der rasche Schlußteil, den das Streichquartett mit einem punktierten Rhythmus eröffnet. Elemente und Bauprinzipien des ersten Teils kehren in verwandelter Form wieder, doch erreicht Yun (u. a. durch diverse Allusionen) den Eindruck einer welthaltigen, tänzerischen Ausgelassenheit. Als Reminiszenz an den langsamen Mittelteil erklingt eine ruhige Klanginsel kurz vor dem im Tempo noch beschleunigten Schluß.
Walter-Wolfgang Sparrer (1997)
Martin Spangenberg (clarinet) / Iturriaga Quartett: Aitzol & Iokine Iturriagagoitia (violin), Katia Stodtmeier (viola), Rebekka Riedel (cello)
Internationale Isang Yun Gesellschaft IYG 006