0.0.2bcl.0-4.3.2.btrbn.1-timp.perc(4):vib/glsp/mar/chimes; almglocken/xyl; 4bowl gongs/glsp/chimes/almglocken/tgl; tuned gongs/2pots/crotales-pft-2hrp-2kbrd samplers-solo amplified violin-strings
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Boosey & Hawkes (Hendon Music)
The Dharma at Big Sur habe ich 2003 anlässlich der Eröffnung der Disney Hall in Los Angeles komponiert. Entworfen hatte dieses neue Gebäude der großartige Frank Gehry, mit dem ich zwanzig Jahre vorher an dem Stück Available Light für die Choreographin Lucinda Childs zusammengearbeitet hatte. Schon in den frühesten Planungsphasen versprach Disney Hall mehr zu werden als einfach nur ein neuer Konzertsaal. Mit den weitläufigen, silberfarbenen Wolken und Segeln an der Außenseite und den warmen und einladenden Publikumsräumen im Innern kam die Eröffnung dieses Gebäudes einem Meilenstein in der Geschichte der Kultur der Westküste gleich.
Als Esa-Pekka Salonen, Musikdirektor des Los Angeles Philharmonic Orchestra, mich bat, ein besonderes Stück zur Einweihung zu komponieren, begann ich sogleich damit, in meinem Kopf ein Bild zu suchen, das – entweder verbal oder visuell – die Gefühle eines Auswanderers hervorrufen kann, den es an die Pazifikküste zieht – so wie mich selbst, und so viele andere, die die Reise hierhin unternommen haben, sowohl physisch als auch spirituell.
Ich wollte den Moment ausdrücken, gewissermaßen den „Schock des Erkennens“, den man erlebt, wenn man das Ende der kontinentalen Landmasse erreicht. An der Atlantikküste scheint es die Luft mit ihrem Solegeschmack und dem salzigen Duft schon anzukündigen. An die kalifornische Küste zu gelangen ist ein unvergleichliches Erlebnis. Anstatt langsam ins Wasser überzugehen, fällt der westliche Festlandsockel hier jäh ab, oft aus schwindelerregender Höhe, wie an der Steilküste Big Sur, dem Abschnitt zwischen Santa Cruz und Santa Barbara. Hier zerschellen und brechen sich die Strömungen an der Küste in einem langsamen, trägen Rhythmus von furchteinflößender Kraft. Beim Neuankömmling ruft diese erste Begegnung einen zutiefst körperlichen, auf sehr komplexe Weise emotionalen Effekt hervor. Viele Schriftsteller haben versucht, diesen Effekt unmittelbar zu beschreiben; am besten gelungen ist dies Jack Kerouac. Sowohl in seinen Gedichten als auch in seinen Romanen kommt die Erfahrung, die er heraufbeschwört, sehr nah an mein eigenes Gefühl der Befreiung und Erregung heran; eine Ekstase, gleichwohl mit einem Hauch von jener Melancholie, die in der ersten von Buddhas Vier Edlen Weisheiten ausgedrückt ist: „Alles Leben ist leidvoll.“ […]
In fast allen Kulturen außer der europäischen Klassik liegt die wahre Bedeutung der Musik zwischen den Noten. Das Gleiten zwischen den Tönen, das Portamento, die „Blue Note“ – all diese sind wesentlicher Bestandteil des musikalischen Ausdrucks, ob bei der Improvisation über einen Raga eines großen indischen Meisters oder bei Jimi Hendrix oder Johnny Hodges, die eine Blue Note fast bis zum Boden dehnen. Die klassische Musik des Abendlands, von Bach bis zur Gegenwart, wird von den zwölf voneinander getrennten Tönen der gleichschwebenden Tonskala beherrscht, diesen sieben weißen und fünf schwarzen Tasten, die sich auf fast ikonische Weise unserem Bewusstsein eingeprägt haben. Von Bachs Zeit an war das Klavier der Hauptträger musikalischer Ideenentwicklung, und seit jener Zeit hat sich die abendländische Kunstmusik auf diese voneinander abgetrennten Tonstufen beschränkt. Das Gleiten zwischen den Tönen, oder Portamento, das so verbreitet ist im Jazz, Rock, Blues und in der Musik außereuropäischer Kulturen, ist in der westlichen Kunstmusik auf den Status einer exzentrischen Ausdrucksweise degradiert worden, etwas, das man vielleicht noch in den Geigenklängen eines Mischa Elman oder in alten Aufnahmen von Wilhelm Mengelberg oder Stokowski hören kann, aber nicht in „normalem“ klassischen Spiel. Ob in Bachs Wohltemperierten Klavier, einem Nocturne von Chopin oder Strawinskys Psalmensymphonie – die Kraft der Gefühlserregung in der klassischen europäischen Musiktradition war immer nur das Produkt dieser zwölf einzelnen Töne. Versucht man sich einen expressiven „Slide“ mitten in einer Bach-Motette vorzustellen, kann es einem nur wie eine Unziemlichkeit vorkommen, während die Klagelaute oder die Ululation in afrikanischer oder mitteleuropäischer Musik Ausdruck tiefster Andacht sind.
Mein Ziel bei der Komposition war, Musik für den Solisten zu schreiben, die so rhapsodisch und spontan wie möglich klingen sollte, als ob die Melodien beim Spielen erfunden würden. Das war keine geringe Herausforderung, da ich in jedem Detail der Phrasierung und dem Zusammenspiel von Solist und orchestraler Klangumgebung die genaueste Aufmerksamkeit schenken wollte. Ich hörte mir Musik aus vielen Quellen an, vokalen wie instrumentalen. Der persische Kamancheh-Virtuose Kayan Kalhor lehrte mich, wie wichtig „Schmutz“ bei einem körnigem Auftrag des Bogens auf einer Seite sein kann.
The Dharma at Big Sur hat zwei Teile, von denen jeder einem Komponisten der Westküste gewidmet ist. Beide waren sowohl Freund als als Inspirationsquelle für mich: Lou Harrison und Terry Riley. Der erste Teil, „A New Day“, ist eine lange rhapsodische Träumerei für Violine solo, eine „unendliche Melodie”, die über der Stille eines orchestralen Summens mit leise pulsierenden Gongs und Harfen und fernen Blechbläserakkorden der schwebt.
In der ersten Fassung dieses „Konzertes nach Kerouac“ sollten sowohl das Soloinstrument wie auch das Orchester in „reiner“ Intonation spielen, d.h. mit anders als gewöhnlich gestimmten Intervallen zwischen den Tönen der Skala. Ich verbrachte über einen Monat in meinem Studio zu Hause damit, meine Synthesizer und Sampler genauestens zu stimmen, so dass genau die Stimmung entstand, die ich haben wollte. „A New Day“ ist eine Hommage an Lou Harrison, der nicht weit von Big Sur entfernt wohnte und der erste Amerikaner war, der in anderen Stimmungssystemen komponierte. Bei der ersten Probe in Los Angeles begriff ich jedoch beinahe sofort, und zu meinem großen Leidwesen, dass die siebzig Orchestermitglieder sich unmöglich auf die minutiösen Unterschiede zwischen den Frequenzen einigen konnten, die für ihre Stimmen vorgesehen waren. Darüber hinaus waren die Blechbläser mit ihren verschlungenen Rohren unberechenbar und launisch in ihren Resonanzeigenschaften. In späteren Aufführungen kehrte ich notgedrungen zu einer mehr konventionellen Stimmung für die meisten Teile des Orchesters zurück, konnte aber immer noch die fremden, „natürlichen“ Oberton-Intervalle bei den Blechbläsern und die unwirklichen Resonanzen der Harfen, Samplers und des Klaviers beibehalten, die alle auf einer besonderen, „reinen“ Skala auf H-Dur basieren.
Der lange, schwermütige, zutiefst lyrische erste Teil, „A New Day“, erreicht einen Höhepunkt, wenn das Orchester, das so lange im Hintergrund geblieben war, nach vorne drängt und die Melodie vom Solo-Instrument übernimmt. Nachdem Harfen, Klavier, Sampler und gestimmte Kuhglocken in einem leicht kakophonischen Glockengeläut hervorbrechen, nimmt das Tempo einen bestimmten Puls an, nicht unähnlich dem Jod, also dem Teil eines Raga, der im mittleren Tempo gespielt wird. Die Solovioline spielt mit einer jazzartig gefärbten Melodie, die sich nach und nach in Umfang und Tessitura erweitert. Dieser Teil ist „Sri Moonshine“, eine Reverenz an Terry Riley, und zwar nicht nur den Komponisten von In C und A Rainbow in Curved Air, sondern auch einen Meister des indischen Raga-Gesangs.
Der leicht daherlaufende Rhythmus weicht einem stärker insistierenden Pochen und bringt dabei einen tänzerischen Effekt hervor, wie ein gigantisch pulsierendes Gamelan-Orchester. Die Solovioline rauscht in die Höhe und stürzt in die Tiefe wie eine Möwe im Sturmwind. Die Blechbläser, die zu Beginn noch so ruhig und zurückhaltend waren, füllen den Klangraum nun mit groß aufwallenden Mauern des Widerhalls. Tief gestimmte Gongs machen die innere Struktur der Musik hörbar, die nun durch und durch in einem ungeheuren, ekstatischen Ausdruck des „reinen H“ vibriert.
(Übersetzung: Andreas Goebel)
Abdruckrechte:
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„The Dharma at Big Sur ist der Reflex des Komponisten auf die kollektive Erfahrung, Kalifornier zu sein... Das Werk ist de facto ein Konzert für elektrische Violine und Orchester. Elektronische Instrumente, Digitalsampler und vorproduzierte Bänder sind kunstvoll in die für üppiges, volles Orchester komponierte Partitur verwoben. Der Solopart, von Tracy Silverman agil und mit geschärfter Expressivität gespielt, erinnert geschickt an Fiedelmusik aus den Appalachen, indische Sitar und nostalgische Jazzriffs mit wimmernden Anklängen an Jimi Hendrix... man hörte die vielen Feinheiten im Orchester, mit eindringlichen Abschnitten voll Musik, die ‘à la L.A.’ lakonisch und gelassen erscheint, dabei aber unterschwellig vor kribbeligen Figurationen, launischer Kontrapunktik und zerstückelten Rhythmen erzittert... die Komposition entfaltete eine kraftvolle Wirkung. Das Stück baute sich zu einem extatischen Finalteil auf, Adams’ Messiaenischem Moment – ein solches Sturmgetöse von aufgetürmter Aktion und Spannung, daß man nicht hätte sagen können, ob die Musik gleich ex- oder implodieren würde." (Anthony Tommasini, New York Times, 27.10.2003)
Tracy Silverman / BBC Symphony Orchestra / John Adams
Nonesuch 7559798572