Bote & Bock
Vor einigen Jahren kam die Idee für ein Stück für Streicher auf, das in irgendeiner Weise mit Beethovens Leben und seiner Musik verknüpft sein sollte. Die Gedanken, die aus dieser ersten Anfrage erwuchsen, blieben bestehen und haben sich seither weiterentwickelt. Es schien mir nur folgerichtig, diese Idee mit meinen früheren Kolleginnen und Kollegen von den Berliner Philharmonikern zu verwirklichen, einer Gruppe, mit der ich so viel Beethoven gespielt habe und von der ich so viel gelernt habe. Ein faszinierender Gedanke ließ mich beim Wiederlesen von Beethovens berühmten Heiligenstädter Testament (dem letzten Willen, den er, als er von der Unheilbarkeit seines Hörleidens erfuhr, recht früh im Leben niederschrieb) nicht los, nämlich das leise, fieberhafte Geräusch von Ludwigs Schreibfeder, wie ich sie mir vorstelle, während er manisch auf die Pergamentblätter kritzelt.
Beethovens Testament von 1802 zeigt selbstverständlich dieselben Anzeichen seines ungestümen Temperaments, die man so leicht an anderen Beispielen seiner (kaum leserlichen) Manuskripte und Briefe erkennt. In diesem Fall kommen noch gesteigertes Pathos, Hoffnungslosigkeit und Selbstmitleid hinzu, was den Text zu einem so außergewöhnlich bewegenden Dokument macht. "Ach", schreibt er an einer Stelle, "wie wär es möglich daß ich dann die Schwäche eines Sinnes angeben sollte; der bej mir in einem vollkomenern Grade als bej andern sein sollte, einen Sinn denn ich einst in der größten Vollkomenheit besaß…".
Testament beginnt mit Klängen einer hastigen, atemlosen, doch beinahe stillen Verzweiflung, wenn das Bratschenensemble die Instrumente mit Bogen ohne Kolophonium streicht. Ohne die Reibung, die das Kolophonium erzeugt, rutscht der harzlose Bogen mit einem unheimlichen Geräusch über die Seiten; nur ab und zu entsteht dabei ein voll klingender Ton. So erklingt das wesentliche Material dieses Stücks wie hinter einem Schleier, oder als ob es selbst durch ein Hörleiden beeinträchtigt wäre. Es wird zwar viel agiert, doch der Höreindruck bleibt vage. Der scherzohafte Charakter dieses Gekritzels geht schließlich in einen langsameren Teil über, geführt von einer hohen, schwebenden Kantilene der 1. Bratsche. Die Gestalt dieser Kantilene ist aus der Vertonung einiger Worte aus Beethovens Text entstanden, ein Lied mit Worten, aber ohne Stimmen. Nach und nach wird der Raum von Zitaten aus dem 1. Rasumowsky-Quartett (op. 59) beherrscht, die jedoch abgebrochen werden, noch bevor sie sich zu einer einheitlichen Gestalt zusammenfinden können. Ein Gefühl von Verlust und Entfremdung hängt in der Luft, wenn plötzlich, unwiderruflich, der ganze Schmerz, der in der Musik verborgen war, hervorbricht und die Bratschen wieder mit vollem Klang spielen. In der folgenden, schnellen Passage wird die stille Unruhe der Eröffnungstakte entwickelt, zuweilen unverblümt aggressiv, dann wieder verinnerlicht und unschlüssig, oder auch überraschend heiter und geschmeidig, wobei bruchstückhafte Bezüge zu dem opulenten Finale von Beethovens op. 59/1 auftauchen.
Diese ambivalente Atmosphäre bleibt bis zum Schluss von Testament (Musik für 12 Bratschen) bestehen, schwebend zwischen melancholischer Sehnsucht und Entschlossenheit. Ironischerweise war die Zeit, die Beethoven in dem ruhigen Dorf Heiligenstadt bei Wien verbrachte und während der er dann einsehen musste, dass sein Leiden unheilbar war, auch der Beginn einer der größten Schaffensperioden in seinem Leben, in der die Eroica, die Rasumowsky-Quartette und andere ebenso umwälzende Werke entstanden. Die Zeit in Heiligenstadt war eine Zeit der Erholung, der Einsicht und des Neubeginns.
© Brett Dean 2002
Testament wurde von den Berliner Philharmonikern für ihre Kammermusikreihen in Auftrag gegeben und ist den Bratschern der Berliner Philharmoniker gewidmet, "mit meinem ganzen Respekt, meiner Bewunderung und meinen besten Wünschen".
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"Testament bezieht sich auf Beethovens verzweifeltes Dokument aus Heiligenstadt. Bögen ohne Kolophonium zischeln und kratzen wie Beethovens Schreibfeder, Zitate aus Rasumowsky-Quartetten und Eroica wehen schemenhaft vorbei, verstörend wie Bruchstücke aus Beethovens ertaubenden Ohren. Deans intime Erfahrung mit seinem ehemaligen Kollegen, dem Instrument und dem ganzen Orchester ist einkomponiert: Die zwölf, alle als solistische Individualisten mit unabhängigen Parts bedacht, klingen gemeinsam wie die komplette Hundertschaft. Die faszinierend mehrschichtige Portät-Hommage an die ‘Berliner’ und ihr Beethoven-Spiel war Zentrum eines elektrisierenden Konzerts." (Ellen Kohlhaas, FAZ, 18.06.2003)
BBC Symphony Orchestra (viola section) / Martyn Brabbins
BIS-2016 (SACD)