fl.ob.cl.bn-hn
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Bote & Bock
Etwa seit seiner Symphonie II (1984) rasterte Yun sein Notenpapier zu Einheiten von je vier Takten; ein Verfahren, das ihm eine klarere Übersicht zu ermöglichen schien. Mit diesem zunächst äußerlichen Moment gelangte er dann aber auch zu Formbildungen, deren Sinneinheiten oft ein Mehrfaches von vier Takten ausmachen. Nach dem Sinn dieses Anordnungsprinzips befragt, antwortete Yun, auch dieses hänge mit seiner ostasiatischen Philosophie zusammen. Auf die scheinbar starre Rastrierung reagiere er durch die Flexibilität des nahtlos klingenden Komponierten. [...]
Die beiden Teile des Anfang 1991 in Berlin-Kladow komponierten Bläserquintetts können auch einzeln aufgeführt werden, sind gleichwohl kontrastierend aufeinander bezogen. Der zweite Teil ist das "weibliche" Gegenstück (Yin) zu dem "männlichen" Yang des ersten. Beiden Teilen liegt ein gleiches architektonisches Modell zugrunde: Die sechzehn Takte einer jeden Seite der autographen Partitur finden ihren Widerpart in der folgenden Seite (von ebenfalls sechzehn Takten). In beiden Sätzen stellt Yun dem ruhigeren A ein bewegteres B gegenüber. Er variiert und entwickelt diese Polarität durch steigernde und verdichtende "Wiederholung".
Mit 112 Takten ist Teil I einerseits das längere Stück. Mit einer Spieldauer von etwa siebeneinhalb Minuten ist er andererseits jedoch um eine Minute kürzer als Teil II, der nur 88 Takte umfaßt. Dieser Widerspruch findet seine Erklärung durch die Taktarten. Für Teil I wählte Yun den härteren 4/4-Takt, für Teil II den weicheren 6/4-Takt. Eine Keimzelle für die Harmonik von Teil I ist der Tritonus f-h; für Yun eine Chiffre seiner in zwei Staaten gespaltenen koreanischen Heimat. Sieben mal sechzehn Takte prägen die Form A–B, A1–B1, A2–B2, A3. Das Stück beginnt mit dem solistisch führenden Horn. Entsprechend tritt dann in der Variante A1 das Fagott solistisch hervor und in A2 die Oboe. Das Horn bringt typisch koreanische – sowohl auf dem ersten als auch auf dem letzten Ton akzentuierte – Klanggesten mit Rufcharakter. Im wellenartigen, gleichsam naturhaft-vegetativen Fluß des Klangs bedingen die einzelnen Stimmen einander, reagieren aufeinander und sind ständig in einer Art von tönendem Diskurs begriffen. Die relative Stabilität einer vierstimmigen Akkordbildung in A weicht im kontrastierenden B-Teil einem rascheren und fluktuierenden Bewegungscharakter, dem Auf und Ab klanglicher "Wirbel" (Yun). Zu Yuns Komponieren gehört auch die stete Weitung des Tonraums. So erreicht die Flöte kurz vor Schluß das viergestrichene c. Und im Schlußakkord erscheint die Keimzelle des Tritonus f–h – eines der verborgenen Zentren des Werks – verwandelt in die und gemildert zu der Quart fis–h.
Leise und verhalten hebt Teil II – er hat die Form A–B, A1–B1, A2–B2 – an mit der Quart f–b, einer kleinen Sext und einer Kleinterz. Die weit schwingenden und lang ausgehaltenen Töne vom Beginn des ersten Satzes ersetzt Yun hier durch eine Portato-Artikulation in Viertelnoten. Der dichtere B-Teil kontrastiert durch heftige Dynamik, schnellere Bewegungscharaktere und längere Phrasen. Die Stille des Beginns wird im zweiten Anlauf durch kleinere Figurationen an den Phrasenenden belebt. Im kürzeren Schlußteil (aus zweimal zwölf Takten) tritt anfangs die Flöte solistisch heraus. In enger Verzahnung und mit "etwas (zu) übertreiben(den)" Vierteltonglissandi schließt das Werk mit einer geradezu appellativen Gestik.
Walter-Wolfgang Sparrer (1991)