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Scoring

1.1.2(=bcl).1-1.1.1.1-perc-harp-pft-strings(1.1.1.1.1)

Abbreviations (PDF)

Publisher

Bote & Bock

Territory
This work is available from Boosey & Hawkes in der ganzen Welt.

Availability

Uraufführung
04/10/1993
Dresden
Kammerensemble pro musica nova Bremen / Klaus Bernbacher
Programme Note

Annette Schlünz setzt in ihren Werken den Rationalismen und Konstrukten unserer Zeit etwas sehr Körperlich-Sinnliches entgegen: organismisch wirkende Klanggebilde, Klänge, denen die ewigen unwandelbaren Gesetze der Natur zugrunde zu liegen scheinen und die uns daher auf eine intuitiv-existentielle Weise anzusprechen vermögen. So, wie sich Moleküle aus Atomen und Atome aus Elementarteilchen bilden, eine Struktur manifestieren, um irgendwann wieder zu zerfallen, so schließen sich in dieser Komposition kleinste Klangbausteine zu komplexeren Klängen zusammen, atmen kurz in jener neu gewonnenen Gestalt und lösen sich voneinander, um andere Verbindungen einzugehen.

Fadensonnen, das jüngste kammermusikalische Werk von Annette Schlünz, entstand im Auftrag des Dresdener Zentrums für zeitgenössische Musik. Wie die Partitur vermerkt, wurde es am 8. Juni 1992 fertiggestellt. In Anlage, Inhalt und Ausstrahlung führt es die Intention der vorangehenden Stücke fort und ist dennoch ein konsequenter Schritt in eine andere Richtung des musikalischen Denkens. In den etwa 11 Minuten, die das Stück dauert, wird eine musikalische Welt voller Zartheit, Sanftmut und Empfindsamkeit artikuliert, die so zugleich den Charakter einer Vision trägt, führt sie doch – in Tönen – eine Möglichkeit für die Welt vor.

"Fadensonnen" – eine Wortschöpfung Paul Celans, die viele Assoziationen weckt: Sonnen, deren verschwenderische Fülle reduziert, geschrumpft ist auf einen Bruchteil ihrer selbst - die große, üppig strotzende Gestalt der Kugel, die seit Jahrmillionen in unserer Galaxie Energien pulvert, nun selbst am seidenen Faden hängend? Endzeitstimmung? Werden und Vergehen als großes Thema des Lebens und als Thema großer Kunst. Die Sonne, das von unserem begrenzten menschlichen Verstand nicht zu fassende kosmische Ereignis, das Yang des Lebens und der Faden als ein fragiles Gespinst – zwei Bilder, die sich ausschließen, zwei Worte, die im täglichen Sprachgebrauch nichts miteinanderzu tun bekommen. Poesie... Etwas im Kopf und Herzen miteinander verknüpfen, was so nicht zueinander gehört, damit Ungeahntes, vielleicht eine Möglichkeit entsteht: "Fadensonnen" könnte auch heißen, ein leuchtendes, ein hauchdünnes Geflecht aus Licht und Wärme. Eine Hoffnung, aber worauf?

Gedanklicher Ausgangspunkt des Stücks war ein magisches Quadrat. Die griechische (vor allem die pythagoräische Schule), die mittelalterliche, barocke europäische aber auch arabische Kultur bis hin zur Kabbala der Juden haben der Zahlensymbolik eine große Bedeutung beigemessen. Die Lust am Spiel, die Suche nach Möglichkeiten der Verschlüsselung realer Prozesse (Geheimwissen), die Ehrfurcht vor der über die Zahl repräsentierten "gottgewollten" Ordnung der Welt, die in Bereiche des Mystischen und Esoterischen vorstößt, sind bis in die Gegenwart hinein Anlaß für die Faszination, welche Zahlensymbolik auszulösen vermag. Das dem Stück Fadensonnen zugrunde liegende Quadrat mit der 5 als Zentrum, um die sich die Grundzahlen 1 bis 9 gruppieren, ist ein altehrwürdiges Symbol, welches in vielen Kulturen nachgewiesen werden konnte. Die Summe aller Glieder in der Waagerechten, Senkrechten und Diagonalen ist 15, aber in der linken unteren Ecke enthält es die 17, die sich nach Auffassung des arabischen Alchimisten Dschabir aus der Sequenz 1:3:5:8 zusammensetzt. Die Zahlenverhältnisse aber sind es, die die Taktverhältnisse im Stück beeinflußten (also z. B. Folgen von 8,5,3,1 Takten etc.) und welche darüber hinaus die Wahl der Instrumente (Besetzung) geleitet haben:

1 Solo-Bläser, die 2. Klarinette (Baßklarinette)
3 Klavier, Harfe, Schlagzeug
5 Streichquintett: 2 Violinen, Viola, Violoncello, Kontrabaß
8 Bläser in Form von 2 Bläserquartetten: Holzbläserquartett: Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott
Blechbläserquartett: Horn, Trompete, Posaune, Tuba

In dieser Besetzung sind alle, in der klassischen Orchestertradition dominanten Instrumente vertreten, gleichzeitig werden drei "klassische" Besetzungen traditioneller Kammermusik exponiert, so daß sich innerhalb dieses 17-köpfigen Ensembles feinste Nuancen von Kammermusik verwirklichen lassen, durch die solistisch aufgefaßte zweite Klarinette zudem Varianten des Solokonzerts sowie eine Fülle von Möglichkeiten der Kombination der Instrumente. Differnzierteste klangfarbliche Erfindungen und fließende Übergänge vom Schmelz- zum Spaltklang sind dieser Besetzung quasi eingeschrieben und werden so von Annette Schlünz auch genutzt.

Die anderen Zahlen des Quadrates tragen andere Funktionen. Die 6 z.B. ist für die Dramaturgie des Stücks verantwortlich. Es gibt 6 Abschnitte im Rahmen der konzipierten Einsätzigkeit. Die 5 und die 6 sind darüber hinaus über das dem Stück zugrunde liegende Klangmaterial verbunden: Die 5 als Zentrum des Quadrates findet sich wieder im fünfstimmigen Akkord b-a-f-es-e, der Ausgangspunkt (Keimzelle) aller Klangarbeit ist. Die 5 zeichnet überdies für die Entstehung dieses Akkordes verantwortlich, stehen doch die einzelnen Töne im Quintverhältnis zueinander: b-f, es-b, a-e. Diesem Basisklang wird (über das Solo-Instrument) ein 6. Ton hinzugefügt, der wiederum im Qintverhältnis zu es steht: as. (As als zusammengezogene Anfangsbuchstaben des Namens der Komponistin - eine Art Psychogramm? Die Tatsache, daß dieses As als Anfangs- und Endton des Stücks in der Soloklarinette präsent ist, unterstreicht seine Bedeutung und die Möglichkeit einer biografisch bedingten Tonsymbolik.) Die anderen Glieder des magischen Quadrates – 2,7 und 9 – sind als Sekunde, Septime und None häufig vorkommende Intervallverhältnisse. Die 2 findet sich zudem in zwei parallel laufenden Strukturen, die die Komponistin selbst als KLANGBAND und EREIGNISBAND bezeichnete, wieder.

Dies alles geschieht vor dem Hintergrund des "Nichts", denn die Regionen des Piano werden kaum je verlassen. Es gibt Vorgänge, die aus dem fünffachen Piano herauswachsen. Und die Musiker müssen mehr als oft Differenzierungen vom vierfachen zum dreifachen zum fünffachen Piano gestalten. Welch ein Ereignis ist in diesem Zusammenhang ein Mezzoforte? Wie sehr muß sich ein Musiker zurücknehmen, der doch in der alltäglichen Orchesterpraxis gefordert ist, mit Artistik zu glänzen? Wie sehr müssen wir als Hörer uns öffnen, damit wir diese Musik erleben, wie sie erlebt werden sollte: über die dünne Haut des Körpers, über das ungeschützte Selbst.

© Felicitas Nicolai

Recommended Recording
cd_cover

Kammerensemble pro musica nova Bremen / Klaus Bernbacher
Wergo WER 6539-2

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