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Scoring

3(III=picc).2.corA.3(III=bcl).3(III=dbn)-4.3.3.1-timp.perc-2harp-strings

Abbreviations (PDF)

Publisher

B&B

Territory
This work is available from Boosey & Hawkes in der ganzen Welt.

Availability

Uraufführung
01/07/1907
Dresden
Sächsische Hofkapelle / Ernst von Schuch
Programme Note

Als Geiger einer der besten seiner Generation, fand Heinrich Gottlieb Noren als Komponist zunächst eher beiläufige Beachtung, doch die Uraufführung seines orchestralen Variationszyklus Kaleidoskop bei der Tonkünstlerversammlung in Dresden am 1. Juli 1907 durch die Sächsische Hofkapelle (die spätere Dresdner Staatskapelle) unter ihrem Chefdirigenten Ernst von Schuch (1846–1914) katapultierte den Namen des 46jährigen schlagartig an die vorderste Front der neueren Tonsetzer. Es waren nicht nur die unbestreitbaren musikalischen Qualitäten des Werkes, dessen Instrumentation glanzvoll und erfindungsreich und von großem Reiz im Ernsthaften und Erhabenen wie im Kapriziösen und Filigranen ist, sondern es war insbesondere die ungewöhnliche und höchst freisinnige elfte und letzte Variation vor der Doppelfuge, als „Fantasie“ untertitelt, die allgemeines Aufsehen ob ihres Muts, den direkten Vergleich zu wagen, wie auch hinsichtlich der schwungvollen Kühnheit der Anlage auf sich zog: „An einen berühmten Zeitgenossen“, womit natürlich Richard Strauss gemeint ist, aus dessen Heldenleben Noren unverblümt zweifach zitiert.

Kaum machte die Kunde vom grandiosen Erfolg die Runde, da hatte die Sache auch sofort ein gerichtliches Nachspiel, das sich zum köstlichen, vielfach hämisch kommentierten Präzedenzfall entwickeln sollte: Richard Strauss’ Leipziger Verleger Leuckart reichte beim Oberlandesgericht Dresden Klage wegen Verletzung des Urheberrechts ein. Das war geradezu ein Wasserfall auf die Mühlen des Richtungsstreits zwischen den fortschrittlichen (vornehmlich um den kecken, mühelos um keine Wendung oder Tirade verlegenen Neuerer Strauss) und den konservativen bis reaktionären (wie etwa Reinecke in Leipzig oder die Berliner Akademiker) Kreisen. Schon zwei Jahre zuvor, nach der Uraufführung der Salome, hatte der den jüngsten Entwicklungen entfremdete eherne Kontrapunktmeister Felix Draeseke (1835–1913) mit seiner Streitschrift Die Konfusion in der Musik die erbitterte Auseinandersetzung zwischen Widersachern und Befürwortern der Fortschrittsmusik so richtig aufflammen lassen. Neben todernsten Befehdungen gab es auch beißend humoristische Beiträge, vor allem, nachdem 1908 das Königliche Landgericht Noren, den gewitzt mit offenen Karten spielenden Dieb zweier Hauptthemen aus dem Heldenleben, vom Vorwurf der Urheberrechtsverletzung freisprach mit der Begründung, dass es sich hier gar nicht um Melodien handele (GRUR 1909, Seite 332, Oberlandesgericht Dresden). Dem folgte im Faschingsheft 1909 der Zeitschrift Die Musik eine Glosse von Strauss-Biograph Max Steinitzer (1864–1936; dem großzügigen Mäzen des fiktiven, nach Madagaskar ausgewanderten Strauss-Rivalen Otto Jägermeier), welcher dem Helden-Thema folgenden Text unterlegte: „Strauß ist ein großes Genie, aber ganz ohne Melodie. O, so hört Franz Lehár an! Das ist doch noch ein ganz andrer Mann!“ Im gleichen Heft fand sich von der Gegenpartei das „Reformkasperlspiel“ von der „144. Kakophonikerversammlung in Bierheim“, welches die Arbeit des Allgemeinen Deutschen Musikvereins (ADMV), dem Strauss vorstand, gnadenlos karikierte, und seinem Autor, dem Münchner Pädagogen und Komponisten Edgar Istel (1880–1948), jahrelange Rechtsstreitigkeiten eintrug. Hier tritt zum Ende der Versammlung der Teufel auf und lässt „eine neue Kakophonie Richards: Höllenleben“ von seiner Leibregimentskapelle spielen. Aber der Teufel gebietet Einhalt: „Das ist wirklich selbst mir zu bunt! Das kann ich meinen armen Seelen nicht zumuten, die sind nur zu einfacher Höllenpein verdammt. Komponiert ihr denn alle so?“ Darauf Richard: „Halten zu Gnaden, Herr Teufel, i moan, die übrigen komponieren noch scheußlicher.“ Da werden sie aus der Hölle rausgeworfen: „Die Erde öffnet sich und speit alle Kakophoniker aus…“

Welche juristischen und satirischen Kollateralfolgen im Erden- und Höllenleben auch immer sein Kaleidoskop haben mochte, es war erstens ein virtuos-mannigfaltiges Orchesterwerk auf der Höhe der Zeit, und der Skandal fachte den Erfolg in effektivster Weise mit an. Das Kaleidoskop, noch im Jahr des Gerichtsbeschlusses 1908 beim Leipziger Musikverlag Lauterbach & Kuhn im Druck erschienen, wurde landauf landab nachgespielt und europaweit von den großen Orchestern ins Programm genommen. Am 12. Dezember 1908 gab das Boston Symphony Orchestra die US-Premiere, zwei Tage später spielten die Berliner Philharmoniker das Werk zum ersten Mal unter ihrem Chefdirigenten Arthur Nikisch (1855–1922), und die erste englische Aufführung fand in einem Prom-Konzert am 19. August 1909 in der Londoner Queen’s Hall statt. Weitere Erfolge kamen hinzu: Arthur Nikisch leitete das Gewandhausorchester in der Uraufführung seiner Symphonie Vita in h-moll op. 36 am 11. Januar 1912 in Leipzig, und das 1911 komponierte, äußerst dankbare Violinkonzert op. 38 wurde beim Tonkünstlerfest in Danzig am 28. Mai 1912 in Danzig durch Alexander Petschnikoff (1873–1949) aus der Taufe gehoben und bald darauf durch Hugo Kortschak (1884–1957), jeweils begleitet unter der Stabführung Norens, am 9. Oktober 1912 erstmals in Berlin mit den Berliner Philharmonikern und am 24. November 1912 erstmals in Wien mit dem Wiener Tonkünstlerorchester vorgestellt. Kortschak spielte auch die Münchner Premiere und in der Folge die erste amerikanische Aufführung am 5. Dezember 1913 in Chicago mit dem Chicago Symphony Orchestra unter Chefdirigent Frederick Stock (1872–1942). Erst der Erste Weltkrieg setzte dem Höhenflug von Norens Musik ein abruptes Ende, und nach dem Kriege war der Name Noren, auch mangels aufsehenerregender neuer Werke, wie so viele anderen schnell weitgehend aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht. Dabei war Noren noch in der Saison 1916/17 mit zwei Werken im Programm der Berliner Philharmoniker vertreten gewesen: am 12. Oktober mit dem Kaleidoskop unter Hermann Henze (1886–?), und am 12. Februar 1917 unter Leitung Felix Weingartners (1863–1942) mit der Uraufführung seiner Serenade op. 48.

Zunächst Brahmsianer, war Noren auf der Höhe des Erfolgs an die Seite des von ihm verehrten Richard Strauss gerückt, und in der natürlichen Virtuosität seiner Schreibweise wie auch der kapriziösen Musikanterie steht er Seite an Seite mit Strauss und Reznicek – es ist höchste Zeit, dass man ihn hundert Jahre nach dem allmählichen Sinken seines Sterns wiederentdeckt, und kein Werk läge hierfür näher als das Kaleidoskop, jenes Kultwerk in Zeiten des Umbruchs in die Moderne.
Christoph Schlüren, Mai 2016

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