Boosey & Hawkes
In Benjamin Brittens facettenreichem Kammermusikschaffen schätzen Oboisten vor allem das Solowerk Six Metamorphoses after Ovid op. 49, doch auch im Phantasy-Quartett wird dieses Instrument interessant beleuchtet. Es ist das Werk eines gerade einmal Achtzehnjährigen: Britten war Student am Londoner Royal College of Music, als er sich im September 1932 an die Komposition begab. Er griff darin eine Idee auf, die sein kurz zuvor entstandenes Phantasy-Streichquintett befolgt hatte: Dieses Stück hatte den Cobbett-Preis für Kammermusik gewonnen, zu dessen Wettbewerbsregeln es gehörte, die einsätzige Form der Fantasia des 16. Jahrhunderts zu verwenden. So ist auch das wenige Monate später komponierte gleichlautende Werk für Oboe und Streichtrio der Einsätzigkeit verpflichtet.
In kluger Synthese verschmilzt Britten die Prinzipien von Fantasie und Sonate: rhapsodisches Melisma und dichte motivische Arbeit sind gleichermaßen Kennzeichen des Werks. Die ruhige, aus der Stille wachsende Introduktion (Andante alla marcia) stellt das Hauptthema vor. Ein zweites Thema mit sofortiger variativer Verarbeitung wird im anschließenden, leidenschaftlichen Allegro giusto-Abschnitt präsentiert. Ein sanfter, fast pastoraler langsamer Abschnitt schließt sich an, bevor die Oboe im höchsten Klangregister mit der Reprise des Alla marcia einsetzt. Eine zur Introduktion spiegelbildlich aufgebaute Coda, in der zuletzt nur noch das kaum vernehmbare Violoncello übrig bleibt, beschließt das knapp viertelstündige Werk. In seinem op. 2 erstaunt nicht nur der leichte, souveräne Umgang des jungen Britten mit dem musikalischen Material, sondern auch die bereits vorhandene Ausprägung seiner kompositorischen Handschrift.
Die Erstaufführung des Phantasy-Quartetts wurde im August 1933 in einer BBC-Sendung ausgestrahlt. Der Widmungsträger Leon Goossens übernahm den Oboenpart, von drei Mitgliedern des International String Quartet begleitet. Die öffentliche Uraufführung fand in gleicher Besetzung am 21. November 1933 in London, eine weitere Aufführung auf dem ISCM Festival [International Society for Contemporary Music] am 5. April 1934 in Florenz statt.
© Kerstin Schüssler-Bach