Der Traum des Liu-Tung
(The Dream of Liu-Tung) (1965)Libretto von Winfried Bauernfeind nach einem altchinesischen Lehrstück des Ma Chi-Yuan (14. Jh.) in der Übersetzung von Hans Rudelsberger (dt.)
S,M,T,2Bar,B; chorus(may be pre-recorded);
2(I=afl,II=picc).2(II=corA).1(=bcl).1(=dbn)-2.1.1.1-timp.perc(4):SD/BD/glsp/sleigh bells(sm)/tam-t/3susp.cym/maracas/ratchet/whip-harp-strings
Abbreviations (PDF)
Bote & Bock
In den Jahren 1965 bis 1972 wurden vier Opern von Isang Yun in Deutschland uraufgeführt: Der Traum des Liu-Tung (Berlin 1965), Die Witwe des Schmetterlings (Nürnberg 1969), Geisterliebe (Kiel 1971) und Sim Tjong (München 1972). Handelt es sich bei den ersten drei Opern um deutsche Übertragungen (und Adaptionen) von Stoffen aus der klassischen chinesischen Literatur, stellt Yuns vierte und letzte Oper die koreanische Heldin Sim Tjong ins Zentrum. Erstmals in der Geschichte der europäischen Oper finden wir hier Libretti, die authentischen Quellen aus China und Korea nachgebildet sind. Gleichwohl sind die ursprünglich asiatischen Stoffe durch die Opernadaption so weit verändert, überformt und konzentriert, dass sich hier ein "dritter Raum" eröffnet, etwas Neues und Fremdes, das in Ostasien wie in Europa der Vermittlung bedarf. Dieser "dritte Raum" zielt darauf, einer neuen koreanischen Kultur ihre Identität zu geben.
Gleichnishafte Archaik bestimmt vor allem den Traum des Liu-Tung, für den Hans Rudelsbergers Übersetzung (Wien 1924) von dramatischen Werken des Ma Zhi-Yuan (ca. 1250 bis ca. 1321) die Textquelle bildet. Ma Zhi-Yuans als Huang liang mong bekanntes Drama war eine von mehreren Bearbeitungen des gleichnamigen Romans aus der Tang-Dynastie (618–907). In dem Roman trifft ein Student Lu (Lu sheng) einen alten Mann Lü (Lü Wong) in einer Herberge in der Stadt. Lu jammert über sein Unglück, daraufhin zieht Lü ein Kissen aus seiner Tasche und erklärt Lu, wenn er darauf schlafe, werde er sich besser fühlen. Während der Besitzer der Herberge gelbe Hirse dämpft, schläft Lu auf dem Kissen ein und träumt eine glückliche Ehe, eine große Karriere und seinen Tod im hohen Alter. Als Lu wieder aufwacht, ist die gelbe Hirse noch nicht gar. Nach dieser Quelle entstanden in den nächsten tausend Jahren mehrere Dramen, die fast alle dem alten Mann Lü (oder auch den Studenten Lu) die Gestalt des Lü Yen, eines der acht Unsterblichen der chinesischen Volksreligion, zuordneten.
Das Libretto zu Isang Yuns Traum des Liu-Tung wurde von Winfried Bauernfeind, dem späteren Oberspielleiter der Deutschen Oper Berlin, nach Rudelsbergers Übersetzung eingerichtet. (Die Inszenierung war dann zugleich seine erste Regiearbeit.) Ungewöhnlich ist die relative Statik von Szene und Musik; sie stellt sich ein aufgrund der eindringlichen, ungeheuer ernsthaften Vertonung der Texte, die Harald Kunz, Yuns späterer Librettist, als "Lehrstück" bezeichnet. Hinsichtlich der relativen Statik spielt Yuns Bewunderung für die japanische Tradition des Noh-Theaters und seine langsamen Verläufe, die gedehnte Zeit, eine Rolle. Yun selber nennt in den Gesprächen mit Luise Rinser bestimmte Gesangstypen für einzelne Partien und eine Art Leitinstrumentation, die für ihn wesentlich gewesen seien, aber auch die Übergänge und Abstufungen zwischen Sprechen und Singen. "Jede Figur, jede Stimme hat von ihrem Charakter her eine spezifische musikalische Atmosphäre. Es gibt also Gesangstypen. In Liu-Tung ist der Eremit von einer Klangatmosphäre umgeben, die durch tiefe Blechbläser und Schlagzeug liturgisch gefärbt ist. Die weibliche Hauptrolle hat ihre lyrische Klangwelt durch Flöte, Harfe, Oboe. Dieses Prinzip habe ich in Liu-Tung zum erstenmal angewandt; es wurde in den späteren Opern immer deutlicher."
Vorspiel. Im Himmel. Der Unsterbliche Tung-Hua erteilt dem Eremiten Ching-Yang den Auftrag, den Studenten Liu-Tung zum Tao zu bekehren.
Verwandlung. In der Herberge befinden sich die Wirtin Frau Wang und der Händler Pien-Fu.. Liu-Tung kommt hinzu und trifft auf Ching-Yang. Eine Unterhaltung über die Ziele im und den Sinn des Lebens beginnt – für Liu-Tung Ehre, Liebe, Macht und Reichtum, für Ching-Yang das Tao.
Erstes Traumbild. Liu-Tung, der seit 18 Jahren mit Tsui-Wo verheiratet ist, soll in den Krieg ziehen. Feierlich überreicht ihm seine Frau ihres "Vaters siegreiche Waffe", das Schwert. – Sein Schwiegervater Kao (= Ching-Yang) gibt ihm Wein zu trinken. Als er erkennt, dass der Wein die Sinne verwirrt, bittet ihn Kao, dem Wein zu entsagen, was Liu-Tung feierlich verspricht.
Zweites Traumbild. Liu-Tungs Frau Tsui-Wo hat während der Abwesenheit ihres Mannes einen Liebhaber (Kuei). Dieser flieht, als Liu-Tung zurück kehrt. Als Liu-Tung wütend und verletzt seine Frau töten will, hält ihn der alte Diener Yuan (= Ching-Yang) davon ab. Liu-Tung entsagt nun der Leidenschaft des Hasses.
Drittes Traumbild. Vor dem kaiserlichen Gericht wird Liu-Tung angeklagt, den Sieg in der Schlacht gegen materielle Vorteile verkauft zu haben. Liu-Tung verflucht Gold und Reichtum. Als ihn der Henker richten will, erscheint Yuan (= Ching-Yang) und verhindert die Vollstreckung des Urteils mit den Worten "Zurück von dem da, der gehört den Himmlischen."
Viertes Traumbild. In Sturm und Schnee hat Liu-Tung den Weg verloren und trifft auf den Holzfäller Lu (= Ching-Yang), der den Wanderer belehrt, dass der rechte Weg nur der des Tao sein könne. An der Tür einer Hütte bittet Liu-Tung um eine Tasse Tee, doch die Bewohnerin warnt ihn vor ihrem Sohn Wu-Sung (= Ching-Yang). Dieser sticht Liu-Tung mit dem Schwert nieder und den Worten "Du hast [dem] Wein und [der] Liebe, [der] Ehre und [dem] Reichtum verschworen [= abgeschworen], heute entsagst du auch dem Leben."
Nachspiel. Liu-Tung erwacht in der Herberge und erfährt, dass er 18 Jahre geschlafen habe: "Nun verstehe ich: Das Leben ist ein Traum! Ehrwürdiger Vater, ich bin bekehrt zum Tao, führe mich den Weg."
Walter-Wolfgang Sparrer