2(II=picc).2(II=corA).2(II=Ebcl).2.dbn-4.4.2.1-timp.perc(5):glsp/2vib/xyl/2marimba/lithophone/ant.cym/t.bells/cowbells/sm tgl/sm cyms/3susp.cym/lg thundersheet/metal bl/javanese gong in D/3timp/BD/sm tamb/2SD/steel dr/zanza/guiro/claves-2harps-hpcd(=cel)-strings
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Boosey & Hawkes
Unsuk Chin schrieb ihr Violinkonzert für die klassische Besetzung: Soloinstrument und Symphonieorchester. Doch das Orchester ist um zahlreiche Schlaginstrumente erweitert; sie bilden ein eigenes Ensemble im Ganzen und verleihen dem Werk seine besondere Farbe und Leuchtkraft. Sie werden nicht zur Steigerung der Klanggewalt, sondern zur Verfeinerung der Klangbilder eingesetzt. Die Sensibilität für die reichen Möglichkeiten der Impulstöner wuchs der europäischen Musik von außen zu: durch den starken Eindruck, den javanische Gamelanorchester bei den Weltausstellungen des späten 19. Jahrhunderts hinterließen, durch die indische und die afrikanische Musik, die erst spät ins kreative Denken europäischer Komponisten vordrang. Unsuk Chin bezieht sich mit ihrem Violinkonzert also nicht nur auf eine Traditionslinie, sie stellt es unter einen weiten kulturellen Horizont, und davon sind auch die Muster und Gewohnheiten der musikalischen Wahrnehmung berührt.
Das Werk besteht aus vier Sätzen. Hinter ihrer Abfolge lassen sich die Schattenrisse der alten symphonischen Form erkennen: Kopfsatz, langsamer Satz, Scherzo und Finale, das auf Material des Anfangsstücks zurückgreift und damit den Ring der Ereignisse schließt. Doch trotz der Gegensätze zwischen verschiedenen Schichten und Abschnitten bestimmen nicht Themenkonflikte und dramatische Zuspitzungen den Gang der Dinge, sondern weitgezogene Entwicklungslinien, Dialoge und feine Übergänge, Verwebungen zwischen den verschiedenen Ebenen und Gruppen des musikalischen Prozesses.
Der Solopart läßt an technischen Herausforderungen und Virtuosität nichts zu wünschen übrig, aber er ist eher Partner als Gegenspieler des Orchesters und seiner Klangabteilungen. So etwas wie eine Kadenz, in welcher die Solistin allein brillieren kann, gibt es nur im ersten Satz, und da bietet das Solo über Haltetönen, die sich in weiten Zeiträumen verändern, eine Art vergrößernden Ausschnitt aus dem, was vorher gespielt wurde. Dem Verfahren des "Zoomens" in Zeit und Struktur begegnet man noch öfter in Unsuk Chins Violinkonzert.
Das Stück beginnt leise, aus der Ruhe. Um den Impulsteppich der Marimbas sind die Flageoletttöne der Solostimme geflochten. Der erste Abschnitt läßt sich als Verdichtung und Weitung benennen. Der Marimbaklang wird kompakter und expandiert. Die Solovioline erschließt neue Tonräume in Höhe und Tiefe. Der Halteton der Kontrabässe setzt sich mit Unterstützung des Kontrafagotts in Bewegung und beschleunigt sie. Grundschritte hier wie in der Violine: die Quinten, der Abstand der leeren Saiten auf dem Soloinstrument. Die Impulse der Marimbas verdichten sich zum rhythmischen Kontinuum. Nach und nach setzen die anderen Instrumente des Orchesters ein - außer den engsten Verwandten des Solos, den Geigen und Bratschen. Die Große Trommel markiert den Übergang zum zweiten Teil, den sie durchgängig grundiert, sie übernimmt die Rolle der Marimbas. Hier tritt die Solovioline klanglich in den Vordergrund. Ihr Part ist wieder aus dem (Zusammen-)Spiel der leeren Saiten und ihrer Überklänge gewonnen. Die anderen, Harfe, Holzbläser, wirken als ihre Unterstützung und Weitung. Das Solo entwickelt deutlich virtuose Elemente, die für den nächsten Teil bestimmend werden. Einzelne Impulse erinnern noch daran, daß die virtuose Bewegung einmal aus den Elementartatsachen der Violine, dem Klang der leeren Saiten, entstand. In diesem dritten Abschnitt übernehmen die tiefen Streicher, die Fagotte und die Gongtrommeln die ruhige Linie. Die anderen Instrumente weiten das virtuose Solo. Diese Linien sind wie mit einer Bandfeder unterschiedlich stark ausgezogen, sie gewinnen räumliche Plastizität wie Skulpturen der Zeit. Fast unmerklich schichten sich die Elemente um, wechseln den Ort im Klangraum des Orchesters. Die Solovioline gibt die Virtuosität an ihre orchestralen Geschwister und an die Vibraphone ab. Sie selbst schlägt die Brücke zu ruhigerer Bewegung, und irgendwann sind die Elemente der Geläufigkeit auf kurze Anläufe im Klangspiel mit Harfen und Schlagzeug reduziert. Es ist, wie wenn sich ein bunter Polyeder im Licht dreht und seine verschiedenfarbigen Flächen an unterschiedlichen Positionen zeigt oder auch für eine gewisse Zeit verbirgt. Die vier Sätze sind eng aufeinander bezogen. Der zweite, der aus vier fast gleich langen Abschnitten besteht, beginnt wiederum mit dem Intervallspiel der leeren Saiten - allerdings in den Schlag- und Zupfinstrumenten, die ein zartes, vielfarbiges Geläut erzeugen. Sie bestimmen das Klangbild zunächst. Von ihnen hebt sich die ruhig ausschwingende Linie der Solovioline ab. Sie setzt als deren Resonanz an, so, wie im ersten Satz Gruppen des Orchesters als Resonanzraum der konzertierenden Geige wirkten. Alles hält sich im leisen Bereich, auch die zarten, an der Hörbarkeitsgrenze entlang geführten Flageolettklänge der Streicher und Holzbläser. Sie umschließen die Stille als Hintergrund und unendliche Möglichkeit der Musik. Als Gegenbilder dazu wirken die kurzen, schnellen Passagen, die in den ruhigen Fluß einbrechen: Reminiszenzen an motorische Momente im ersten Satz. Der erste Teil kehrt verändert und gedrängt am Ende wieder. Er rahmt zwei Mittelabschnitte. Deren erster behält das ruhige Grundtempo bei, dreht jedoch die einzelnen Elemente in verändertes Licht. Haltetöne werden durch Tremoli in innere Bewegung versetzt, die flüchtigen Einwürfe der Streicher reflektieren sich in der extremen Virtuosität des Soloparts, die Wirkungen des Schlagzeugs erscheinen in den Clustern von Harfen und Celesta vervielfacht. Die Übergänge zwischen den Ereignisschichten verfließen wie in einem Aquarell. Schärfere dynamische Kontraste kennzeichnen den zweiten der Mittelabschnitte. Die harten Klangsäulen wirken wie die zeitliche Vergrößerung von Impulstönen, die Triller wie gedehntes Vibrato.
Der dritte Satz nimmt gleich zu Beginn bezug auf Elemente aus dem zweiten. Begann der erste mit einem Klangband der Marimba, der zweite mit dem glockenartigen Spiel der Zupf- und Schlaginstrumente, so steht der dritte ganz im Zeichen der perkussiven, kurzen Töne. Die Streicher spielen über weite Strecken pizzicato. Diesen kürzesten der vier Sätze kann man am ehesten mit dem traditionellen Begriff des "Scherzo" beschreiben, obwohl er von der klassischen Logik der Tonsprache mindestens ebenso weit entfernt ist wie die anderen Sätze.
Die vier leeren Saiten und der Intervallabstand zwischen ihnen bildeten den Ausgangspunkt für die ersten drei Sätze. Der vierte hält den Kontrast dagegen. Er beginnt in ganz hoher Lage, umspielt einen Ton, von dem aus das Spektrum vor allem nach unten ausgebaut wird. Die Reminiszenzen an die vorhergehenden Sätze kulminieren am Schluß in einem deutlichen Bezug zum Anfang des Werkes. Die Bogenform schließt sich. Unter ihr vollzog sich ein konzertanter Prozeß, in dem Klangfarben und ruhiger Fluß der Zeit, Bezug auf verschiedene Kulturen und eine nicht lineare Logik der musikalischen Entwicklung eine individuelle Form und Ausdrucksweise schufen. Unsuk Chins Komposition öffnet durch ihre klangliche Disposition Fenster zu unterschiedlichen historischen Schichten der Musik, zu älteren und zu jüngeren, als die klassische Tradition sie umschließt. Das Ohr wird nicht provoziert, aber es kann sich dennoch nicht auf Gewohnheiten zurückziehen. Daß Zeit durch Ereignisdichte erfüllt wird, ist heute so stark zur Alltagserwartung geworden, daß sich ein Kunstwerk in der Resistenz gegen einen inflationär überladenen Begriff jenes höchsten Guts im Leben der Menschen bewährt.
© Habakuk Traber, im Programmheft der UA am 20.01.2002
Vivane Hagner/Orchestre symphonique de Montréal/Kent Nagano
Analekta AN 2 9944
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