Der ewige Tag
(1998–2000, rev.2002)In mehreren meiner Werke (so z. B. in Mythos, Aura und Pensées) habe ich versucht, überlieferte Formen mit neuem Inhalt zu füllen bzw. bekannte Stoffe neu zu gestalten. Das gleiche gilt für meine Komposition Der ewige Tag. Nichts scheint vertrauter als der Zyklus von Morgen, Mittag, Abend und Nacht. Und doch (oder gerade darum) hat er Künstler aller Epochen zu immer wieder neuen Darstellungen gereizt und inspiriert. Nicht die Banalität des Faktischen war und ist Gegenstand (meines) künstlerischen Interesses.
"Mein" Tag wölbt sich über drei verschiedene Räume und Zeiten. Er bricht im Orient an, zieht über die Mittelmeerregion hinweg und mündet am Pazifik in eine Nacht, die bereits den neuen Tag ankündigt. Diese Stationen und Tageszeiten werden in Gedichten dreier verschiedener Autoren geschildert. Im sinnlich-naiven Morgengedicht des Arabers Ibn Scharaf (11. Jahrhundert), im neomythischen-hymnischen Gedicht "Der Tag" des deutschen Expressionisten Georg Heym und in der sachlich-modernen "Nacht in Isla Negra" des Chilenen Pablo Neruda. Letzterem geht ein recht ausgedehntes orchestrales Zwischenspiel voran, in dem das Thema "Abend" und "Nacht" – im Sinne einer Doppelansicht – rein musikalisch beleuchtet wird, und in dem durch musikalische Bezugnahme auf die Nachtmusik I und das Walpurgisnacht-Scherzo aus der 7. Sinfonie von Gustav Mahler noch einmal ihre "romantischen" Seiten kurz aufklingen. So gliedert sich das Werk in vier große ineinander übergehende Abschnitte unterschiedlicher Charakteristik.
Die Klanglichkeit des Werkes erfährt eine gewisse Bereicherung durch ein neuzeitliches Instrument: einen Sampler. In ihm sind verschiedenartige Klänge gespeichert, die auf originalen Harfenklängen beruhen und in einer zweimonatigen Arbeitsphase im Studio für Elektronische Musik des WDR nach meinen Vorstellungen und Maßgaben umgeformt wurden. Dadurch entstand sozusagen ein "neues Instrument", das von jedem Pianisten gespielt werden kann. Ich habe diese Klänge nicht unter dem Gesichtspunkt des "Spektakulären" produziert, sondern ausschließlich in Hinsicht auf ihre Integrierbarkeit in den Gesamtklang. Von daher halte ich die Zusatzbezeichnung "… und Live-Elektronik" für so überflüssig wie etwa die besondere Erwähnung der Mandoline im Titel der 7. Sinfonie von Mahler.
Das Werk ist Wolfgang Becker gewidmet.
Möge dieses Werk, das am 14. September 2001, drei Tage nach den grausamen Terroranschlägen in New York und Washington, vom Chor und Sinfonieorchester des Westdeutschen Rundfunks unter der Leitung von Semyon Bychkov uraufgeführt wurde, die Erinnerung an die Opfer dieses Anschlags wach halten, möge seine verschiedene Kulturräume überwölbende Grundidee ebenso wie das nach tiefer Nacht am Schluss sich ankündigende Licht des neuen Morgens verstanden werden als Appell an eine Humanität, die alle kulturellen und ideologischen Schranken überwindet und als Ausdruck der Hoffnung auf eine zukünftige Welt, in deren Licht die "Dumpfe Frucht" der Intoleranz und des Hasses nicht gedeihen kann.
Der Morgen
Lang war die Nacht und träge der Tag, zum Aufbruch sich zu rüsten,
die Sterne klagten, dass sie heut’ so lange warten müssten,
doch endlich blies der Morgenwind hinweg die dunkle Hülle,
und aus den Gärten ringsumher stieg Wohlgeruch in Fülle.
Im Osten wies, vor Scham erglüht, von Schüchternheit befangen,
die Morgenröte nach und nach die taugenässten Wangen.
Entfliehend schritt von Stern zu Stern die Nacht im Himmelsraume,
und einer nach dem andern sank wie Blätter von dem Baume.
Zuletzt erschien die Sonne selbst in strahlendem Gefunkel,
und bei des Tages Nahen schwand dahin das nächste Dunkel!
Lang hatt’ ich, auf dem Lager wach, umsonst nach Schlaf gerungen,
bis endlich in der Morgenfrüh der Schlummer mich bezwungen.
Als so ich lag und um mich her auf Blumen, frisch erschlossen,
vom Wind der Frühe rings versprengt, des Taues Tränen flossen,
da trat als Traumbild, jene, die so oft ich unter Tränen
herbeigewünscht, zu mir heran, und stillte so mein Sehnen.
Wie schön die Vielgeliebte war mit ihren vollen Hüften!
Wie schwankte, hin und her gewiegt, ihre Gestalt in Lüften!
Als sie das schwarze Haar zurückstrich vom Gesichte,
das war’s, als ob der Morgen scheucht hinweg die Nacht mit seinem Lichte.
— Ibn Scharaf (11. Jahrhundert)
Der Tag (letzte Fassung)
Palmyras Tempelstaub bläst auf der Wind,
Der durch die Hallen säuselt in der Zeit
Des leeren Mittags, wo die Sonne weit
Im Blauen rast. Der goldene Atem spinnt,
Der goldene Staub des Mittags sich wie Rauch
Im Glanz der Wüste, wie ein seidenes Zelt
Der ungeheuren Fläche. Dach der Welt.
Wie ferne Flöten tönt des Zephirs Hauch,
Und leise singt der Sand. Doch unverweilt
Jagt hoch das Licht. Damaskus’ Rosenduft
Schlägt auf wie eine Woge in die Luft,
Wie eine Flamme, die den Äther teilt.
Der weissen Stiere roter Blutsaft schäumt
Auf Tempelhöfen, wo das Volk im Kranz
Des Blutes Regen fühlt, und seinem Glanz
Der mit Rubinen ihre Togen säumt.
Ein Tänzer tanzt im blauen Mittagsrot
Auf weisser Platte, der von Strahle trank.
Das Licht entflieht. Der Libanon versank,
Der Zedern Haus, das sich dem Gotte bot.
Und westwärts eilt der Tag. Mit tiefem Gold
Ist weit des Westens Wölbung angefüllt:
Des Gottes Rundschild, der die Schultern hüllt
Des Flüchtigen. Sein blauer Helmbusch rollt
Dahin im Sturme weit am Horizont,
Am Meer, und seiner Inseln Perlenseil.
Er eilt dahin, wo schon der Ida steil
Mit Eichen tost und dröhnt der Hellespont.
Vom Stromland fort, dem grünen Abend zu.
Wie der Trompete Ton erschallt sein Gang
An Ossias Echo. Trojas Schiff entlang,
In rote Wälder tritt sein Purpurschuh,
Im Sammetwiesen weich. Dem Feuer nach,
Das einst den Argos flog, tritt machtvoll er
Auf Chalkis hin. Darunter rauscht das Meer
Hervor aus grüner Grotten Steingemach.
Sein Arm, den er auf Meer und Lande streckt,
Ragt dunkel auf wie eine Feuersbrunst.
Sein Atem füllt das Meer mit schwarzem Dunst,
Des weisses Maul die roten Sohlen leckt.
Auf Marathon schleift seines Mantels Saum,
Ein violetter Streif, wo schon das Horn
Der Muschel stimmt am Stand der Toten vorn
Der Sturmgott laut aus weisser Brandung Schaum.
Des Rohres rote Fahnen rührt der Wind
Von seines Fusses Fittich um an Stand
Der fernen Elis, da der Nacht Trabant,
Schildknappe Mond, den dunklen Pfad beginnt.
— Georg Heym
Die Nacht in Isla Negra
Nacht. Uralte Nacht und Dünste von Salz
schlagen an meines Hauses Wände:
es ist das Dunkel nur, der Himmel
ist ein Herzschlag nun des Weltmeers,
und Himmel und Dunkel prallen aufeinander
mit ungeheurem Kampfgetön,
kämpfen die ganze Nacht,
niemand kann die Last ermessen
der grausame Helle, die sich auftun wird,
eine dumpfe Frucht:
so geht an der Küste
aus dem wütenden Dunkel der harte Morgen aus,
zersetzt vom bewegten Salz,
weggefegt aus der Schwere der Nacht,
blutrot in seinem Meereskrater.
— Pablo Neruda
3(III=picc).2.corA.2.bcl.2.dbn-4.3.3.1-timp.perc(4):glsp/xyl/marimba/vib/t.bells/sleigh bells/maracas/tamb/tom-t(lg)/susp.cym/4tam-t-pft-harp-sampler-strings
Abbreviations (PDF)
Boosey & Hawkes
„Der ewige Tag, York Höllers Chorsinfonie – wenn die Bezeichnung angemessen ist –, die im Rahmen eines Festkonzertes zum 15-jährigen Bestehen der Kölner Philharmonie zur Uraufführung kam, zeigt mit der Musik Gustav Mahlers vielschichtigere Gemeinsamkeiten als zwei Zitate aus der 7. Sinfonie [die im selben Konzert ebenfalls zur Aufführung kam, Anm. d. Red.]. Auch die Verwendung vokaler und instrumentaler Bestandteile in derselben Komposition scheint ein eher äußerlicher Bezug. Es handelt sich keinesfalls um nur vertonte Texte, vielmehr ist es der aus der Sprache entstandene Geist der Musik, welcher die Gestalt der Komposition bestimmt. Die von York Höller ausgewählte Lyrik umspannt Zeit und Raum, weit über den Verlauf des Tages hinausgreifend... Hieraus entsteht eine unendliche Bewegung als Überbau, unter der sich freilich auch recht konkrete Textausdeutungen ereignen.
Semyon Bychkov und das WDR-Sinfonieorchester wußten diesen Antagonismus konsequent in beständiger Transparenz darzustellen, die Dramaturgie im Ganzen, und im einzelnen die ‘Klanggestalt’, wie der Komponist es nennt, lang gehaltene Töne der Streicher zu Beginn, über denen sich farbige Flecken, aufgespaltene Klänge in charakteristischen Verfremdungen bemerkbar machen, geblasene Miniaturen, Flöte mit Flatterzunge. Manchmal verdichtete sich der Klang heftig zu Gebilden mit recht üppigem Volumen, von satter Sinnlichkeit. Auch der Chor konstituierte Spannungen zum ‘langen’ Verlauf des Instrumentariums. Meist wurde der Text unbeschädigt deklamiert, bis hin zur Negation der Töne: Musik als reiner Text."
(Norbert Stich, General-Anzeiger Bonn, 17.09.2001)
„York Höller komponierte mit seinem Ewigen Tag eine ‘Sonnenwanderung’ von Ost nach West: ein poème musical mit gewaltigen orchestralen Klangflächen, die rhythmisch fein ziseliert, mit durchbrochener Arbeit reich durchwirkt und in den Klangflächen klug abschattiert sind."
(Frieder Reininghaus, NDR „Musikforum", 17.09.2001)
WDR Rundfunkchor und Sinfonieorchester Köln / Semyon Bychkov
WDR / AV 0019