Bote & Bock
Es gibt einen interessanten Ausschnitt, den Hans Winterberg in einem Album mit Rezensionen, Programmen und gelegentlicher Korrespondenz aufbewahrt hat, das sich im Archiv des Exilarte Zentrums in Wien befindet. Er enthält weder ein Datum noch die Namen der Interpreten, aber er bestätigt, dass Winterbergs Violinsonate vor seiner Emigration nach Deutschland im Jahr 1947 aufgeführt wurde. Die Schriftart und das allgemeine Alter des Papiers lassen darauf schließen, dass es aus dem deutschsprachigen Prager Abendblatt stammt. Ein ähnlicher Zeitungsausschnitt, in dem eine Suite für Klavier von Winterberg besprochen wird, folgt auf der nächsten Seite. Dies deutet darauf hin, dass die Besprechung der Violinsonate 1937 verfasst wurde. Der Rezensent schreibt über sie, dass in ihr „alle verfügbaren Aufführungstechniken“ verwendet werden und sie „ein motivisches Mosaik von Klangeffekten“ bietet.
In seinem eigenen Werkverzeichnis gibt Winterberg als Kompositionsdatum der Violinsonate 1935 an, während er auf dem Manuskript selbst „Prague, 18.XI 1936“ notiert. Es ist ungewöhnlich, dass er für Prag die englische Schreibweise verwendet und nicht die deutsche „Prag“ oder das tschechische „Praha“. Die beiden Zeitungsausschnitte sind die einzigen Hinweise in Winterbergs Album auf sein Leben vor der Emigration. Genauere Nachforschungen beginnen nun, ein vollständigeres Bild von Winterberg als einem der vielversprechendsten jungen Komponisten der Tschechoslowakei zu zeichnen, bevor das Land im März 1939 an Hitler fiel.
Die Sonate weist alle Charakteristika von Winterbergs Personalstil auf: eine am französischen Impressionismus geschulte Klangsinnlichkeit bei gleichzeitiger expressionistischer Strenge der Harmonik, motivische Kleingliedrigkeit, ein ausgefeiltes Spiel mit polyrhythmischen Patterns, und, vor allem in den letzten Sätzen, einen der tschechischen Folklore entlehnten musikantischen Impetus. Der erste Satz beeindruckt durch seine ungewöhnliche Dramaturgie. Das melodische Material wird im Verlauf zunehmend obsessiv von einer absteigenden Formel dominiert, die das deutsche Volkslied „Schlaf, Kindlein schlaf“ evoziert, der wir auch in späteren Werken Winterbergs wieder begegnen werden. Der Satz beginnt im vollen Elan, um sukzessive zu verinnerlichen und schließlich in einem melancholischen Schwebezustand innezuhalten. Der zweite Satz widerspricht dem Stereotyp des ruhigen Augenblicks zwischen zwei turbulenten Ecksätzen. Er beginnt passacagliaartig, streng „wie ein Conduct“, im gravitätischen ¾-Takt und tendiert eher zu trotziger Dramatik als zu beschaulicher Gesanglichkeit. Der letzte Satz bietet ohne Umschweife einen kräftigen slawischen Tanz mit einer rondoartigen Rückkehr zum ersten Tanzthema und eine Fülle verschiedener Ideen und Stimmungen, bis er abrupt und ohne tonale Auflösung abbricht.
Michael Haas, September 2023 (Übersetzung: Frank Harders-Wuthenow)
Clemens Linder, violin / Holger Groschopp, piano
eda records EDA 051