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Sikorski

Programme Note

„Am 13. Mai 1955 wurde ich in Peking geboren. Ich verbrachte dort meine ganze Kindheit und Jugend und schloss auch mein Studium in Komposition an der Zentralen Musikhochschule Peking ab.
Für Europäer ist es gewiss schwer vorstellbar, dass es in China zur Zeit der sogenannten 'Kulturrevolution' nur acht Werke gab, die westliche Instrumente verwendeten: fünf Opern, zwei Ballette, eine Kantate. Die traditionelle chinesische Musik war verboten. Unter den acht erlaubten Stücken, die übrigens fast täglich im Rundfunk gesendet wurden, faszinierten mich die beiden Ballettmusiken ganz besonders. Ich setzte mich vor das Radio - damals war ich dreizehn - und wartete auf „mein Stück“, denn darin befanden sich ein paar kurze Passagen für Solovioline, die es mir vor allem anderen angetan hatten. Ich hätte gern für mich selbst eine Geige gehabt, wagte aber lange nicht, meine Eltern darum zu bitten. Das Bitten war auch schwierig, denn meine Eltern mussten beide im Rahmen der Umziehungskampagne als Bauern arbeiten - an getrennten Orten, eine Eisenbahn-Tagesreise von Peking entfernt. Mein Vater war lange als Theatermann - Theaterautor, Regisseur, Schauspieler - tätig gewesen, meine Mutter hatte im Verlagswesen gearbeitet. Durch meine Eltern lernte ich, das sei nebenbei bemerkt, viele westliche Bücher kennen; so habe ich zum Beispiel den gesamten Shakespeare auf Chinesisch gelesen.
Zurück zur Geige. Mit fünfzehn bekam ich eine Geige und fing an, darauf zu üben. Nur: ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass ich zum Erlernen des Violinspiels einen Lehrer brauchen würde. Überglücklich, endlich im Besitz eines Instruments zu sein, ging ich zu einem Ensemble und wollte sogleich in einem der acht Stücke mitspielen, vielleicht sogar ein Solo übernehmen. Nur langsam begriff ich, dass es noch sehr viel Mühe kosten würde, ein guter Geiger zu werden.
Noch eine zweite Begebenheit über meine ersten Musikkontakte möchte ich hier berichten, weil sie doch auch mit meiner späteren Entwicklung in einem gewissen Zusammenhang steht. In einem seiner Briefe teilte mir mein Vater beiläufig mit, dass er einige Schallplatten besaß, die er aber seit den 50er Jahren, also kurz vor meiner Geburt verliehen hatte. Gewiss wollte er mir mit dieser Nachricht helfen, da ich mich doch sehr für die Wissenschaften interessierte, was ihm viel lieber gewesen wäre, zumal ich auf der Schule immer gute Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften gezeigt hatte. Jedenfalls machte ich mich eilends auf den Weg, die Schallplatten zurückzuholen. Es waren unter anderen Bachs Sechstes Brandenburgisches Konzert, Beethovens Fünfte unter Toscanini, Mozarts c-moll-Klavierkonzert und Puccinis „La Bohème“ in Auszügen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich die dicken alten 78er-Platten, einem Schatz gleich, auf dem Kopf balancierend im überfüllten Pekinger Bus nach Hause transportierte und dann tagelang nur noch am Plattenspieler saß.
Im Alter von 17 konnte ich drei Jahre lang die Fachschule für Musik und Kunst besuchen, wo ich Unterricht in Violine, Klavier und Gehörbildung bekam. In dieser Zeit durften allmählich mehr als nur acht Stücke gespielt werden. 1973 kam dann auch zum erstenmal wieder ein westliches Orchester nach China: das London Symphony Orchestra. Es gelang mir damals, einer Probe zuzuhören - das Violinkonzert von Brahms, Beethovens Siebente; Karten wurden nicht öffentlich verkauft.
Von 1976 bis 1980 war ich als Geiger und Bratschist im „Peking-Orchester“ tätig und spielte dabei auch etliche westliche Werke. Daneben lernte ich bei einem Freund Musiktheorie und Komposition. er hatte zwar keine Partituren, besaß aber Platten und Tonbänder von Debussy, Ravel, Bartók, Hindemith, Strawinsky ...
1980 konnte ich dann die Aufnahmeprüfung an der Zentralen Musikhochschule machen. Dort hörte ich auch eine Vorlesung über die westliche Moderne und erfuhr zum erstenmal etwas über Komponisten wie Webern, Schönberg, Berg, Ligeti Nono, Henze, Carter, Boulez, Stockhausen. Aus einem Koffer - ein nie ausgepacktes Gastgeschenk eines westlichen Orchesters - sah ich 1984 zufällig eine lange dünne Partitur herausragen: die 'Atmosphères' von Ligeti. Es war für mich ein sehr seltsames Erlebnis, diese Musik mit der schlichten chinesischen Bauernmusik zu vergleichen, die ich jeweils in den Sommerferien erforschte. Um diese einheimische Musik zu hören, reiste ich viele Tage lang tief in den Süden Chinas und blieb über die ganze Urlaubszeit hinweg dort. Bestimmt habe ich daraus für meine eigene Kompositionen viele Anregungen empfangen.
Hier im Westen sehe ich immer deutlicher, wohin ich gehen muss. Ich studiere seit 1985 bei György Ligeti in Hamburg, und dort - wie auch im vergangenen Jahr bei den Darmstädter Ferienkursen - habe ich viel Neue Musik gehört. Ich arbeite anders, sicherlich stark in Verbindung mit Eigenheiten der chinesischen Sprache und Musik. Zu diesen Besonderheiten zählt die subtile Melodik: kleinste Änderungen der Tonhöhe haben in unserer Sprache spezifische Bedeutung. Ein und dieselbe Silbe wechselt ihren Sinn, je nachdem, auf welcher Tonhöhe sie gesprochen wird. Auch die traditionelle chinesische Instrumentalmusik wendet dieses verfeinerte Tonhöhendenken an. In der Peking-Oper wird Sprache durch Übertreibung - zeitliche Dehnung, Intervallspreizung - musikalisiert. Von daher muss mein 'STREICH-QUARTETT' als transponierte, musikalisierte Sprache verstanden werden. Von der chinesischen Sprache her bestimmt sind auch die differenzierten Unterschiede der Dynamik im Quartett: kleinste Akzente können im Chinesischen bei sonst gleichen Sätzen einen völligen Bedeutungswandel nach sich ziehen.
Mit der Form freilich verhält es sich anders; hier denke ich weder westlich noch - direkt oder indirekt - chinesisch. Meine Formidee ist auf einer höheren Ebene fixiert, noch ehe ich mein Stück schreibe. Aber doch sagt die Musik erst, wenn sie schon geschrieben steht, wie sie weiter gehen möchte. Ich könnte vielleicht so sagen: fixiert ist die Idee eines Kreislaufs, besser: eines 'Spiralkreislaufs'. Das meint: das Geschriebene beobachtet sich selbst und bewirkt wieder das Zu-Schreibende, wobei immer mehr Deutlichkeit angestrebt wird. Ich komme also nie zum Ausgangspunkt zurück, daher das Bild der Spirale. Den Weg jedoch, den die übergeordnete Spirale nimmt, weiß ich vorher nicht, den bestimmt die Musik.
Nun erhält mein Quartett noch eine beträchtliche Komplexität dadurch, dass viele solcher Spiralabläufe ineinander verflochten sind. Als Beispiel dafür möchte ich die Verwendung der großen Sekunde nennen: sie durchzieht meine Musik als zentrales Element, verändert sich aber durch Glissandi oder Lautstärke-Gebung. Die Sekunde ist für sich ein "Stück", eine ausdrucksvolle Geschichte, verwoben in andere Geschichten anderer Elemente.“ (Xiaoyong Chen, Donaueschingen, 1987)

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