Boosey & Hawkes
Gran Cadenza, von Anne-Sophie Mutter in Auftrag gegeben, ist ein virtuoses Duo für zwei Violinen. Der Titel spielt an auf die Tradition virtuoser Solopassagen im Verlauf einer Arie, eines Instrumentalkonzerts oder eines Kammermusikstückes, die entweder vom Solisten improvisiert wurden oder bereits vom Komponisten ausgeschrieben worden waren, und die in der Regel mit ornamentalen, rhapsodischen und rhythmisch freien Elementen aufwarteten. Kadenzen standen ursprünglich in engem Zusammenhang mit einer Interpretationskultur, die starke Elemente von Improvisation aufwies und gegenüber freier Umgestaltung oft tolerant gesinnt war, einer Tradition, die von den neuen Idealen der Werktreue und des Copyrights im 19. und spätestens im 20. Jahrhundert verdrängt wurde.
Gran Cadenza ist ein in sich abgeschlossenes, ausnotiertes Werk, und auch deutlich länger als die Solokadenz eines Instrumentalkonzerts. Dennoch reflektiert es Elemente freier traditioneller musikalischen Formen wie die einer Kadenz, eines Capriccio oder einer Fantasie. Der Bezug auf die Kadenz wird auch deutlich durch die Zurschaustellung virtuoser Fähigkeiten zweier Solisten, welche ganz im Sinne des lateinischen ‚concertare‘ auf Wettkampf und Disput aber auch auf Ausgleich und Zusammenwirken hinweist. Gran Cadenza kostet verschiedenste Arten der Interaktion – Konflikt, Dialog und Verschmelzung – aus; seine Form entsteht fließend durch Kontraste und verschiedenartige Übergänge zwischen diesen verschiedenen Zuständen.
Eröffnet wird das Stück von markanten und schroffen Gesten der zweiten Geige, denen – im völligen Kontrast – gleichsam improvisatorisch wirkende, ätherisch-ornamentale Figuren der ersten Geige zugesellt werden. Nach einer Weile ‚greift‘ unversehens die erste Geige die zweite an, und kommt es zu virtuosen musikalischen Gefechten und Schlagabtauschen verschiedener Art, wobei alle möglichen kadenzartigen Floskeln als Fragment aufblitzen.
Schließlich kommen die beiden Solisten zusammen, mit Folgen abwärtsgerichteter Akkorde; die ganze Bewegungsenergie kommt quasi zum Stillstand und mündet in klanglich verfremdeten dreiklangartigen Harmonien, die von den beiden Geigen abwechselnd und miteinander konkurrierend dargeboten werden. Es folgt eine plötzliche Aufballung von Energie, samt ornamentaler Einwürfe, in der kurze Fragmente, als Nachhall früherer Motive oder als Vorwegnahme späterer Entwicklungen, auftauchen.
Über ein jähes Crescendo kommt es anschließend zu einem kontrastierenden mittleren Abschnitt, einer längeren Passage absichtslosen Innehaltens, in der die beiden Geigen zu einem ‚Superinstrument’ verschmelzen. Die zweite Geige bietet eine Melodie dar, die von der ersten harmonisch durch Obertöne umspielt wird; allmählich verflüssigt sich das Tempo und spielen beide Geigen zwei verschiedene sich ergänzende melodische Linien. Immer wieder wird der Ablauf durch Reminiszenzen an den Anfang, an markante Akkorde wie auch an improvisatorisch-virtuose Fragmente, unterbrochen; schließlich münden beide Linien in eine rasche und dichte Bewegung in der mittleren Lage, die einer Art Klangteppich gleicht. Dieses Gewebe, wenn auch unterbrochen durch jäh aufblitzende Fragmente, breitet sich unaufhaltsam in verschiedenen Lagen auf und in immer virtuoseren Formen, bis es abrupt von Pizzicati unterbrochen wird und die gesamte Bewegung unvermittelt in den Stillstand kommt.
© Maris Gothoni, 2021