Bote & Bock
Isang Yun, der in seiner Heimat Korea u. a. als Komponist von koreanischen Liedern und Schulhymnen hervorgetreten war, erhielt für sein Streichquartett I und ein Klaviertrio 1955 den Seouler Kulturpreis – die höchste Auszeichnung, die sein Land auf diesem Gebiet zu vergeben hatte. Um in seiner kompositorischen Entwicklung weiterzukommen, begab er sich 1956 zum Studium nach Paris und im folgenden Jahr nach Berlin, wo er Schönbergs Zwölftontechnik kennenlernte. Er fand Anschluss an die Zirkel der Avantgarde in Darmstadt, Köln und Donaueschingen. In Berlin und Deutschland wurde er zum international erfolgreichen Komponisten.
Das Streichquartett I zählt nicht zu seinem offiziellen OEuvre, das mit den Fünf Stücken für Klavier (1958) und dem Streichquartett III (1959; rev. 1961) einsetzt. Mit der vorliegenden Ausgabe folgen Verlag und Herausgeber gleichwohl dem Wunsch, auch frühere Werke von Isang Yun zugänglich zu machen. Das Manuskript gilt als verschollen. Die Ausgabe basiert auf dem Erstdruck der „Society for Native and Cultural Research", der 1955 in Seoul und Pusan (mit der von Ahn Pyeng So ergänzten Bezeichnung der Bogenstriche) erschienen ist.
Obwohl sich Isang Yun von seinem dreisätzigen Streichquartett I später distanzierte und es aus seinem Werkkatolog strich, ließ er Teile daraus in Deutschland aufführen. Am 13. August 1958 spielte das Mangelsdorff-Quartett (mit Mario Mangelsdorff, Günter Feldt, Klaus Heinrich und Siegfried Gahlbeck) den zweiten und dritten Satz bei einem Festakt zur Eröffnung des 12. Katholischen Deutschen Studententags in der Berliner Kongresshalle (seit 1987: Haus der Kulturen der Welt). Erst wesentlich später verhalfen Streichquartette aus Korea – 2002 das Kumho Asiana Quartet und 2015 das Novus-Quartett – dem Werk zu weiteren Aufführungen.
Streichquartett I ist, wie Yun Luise Rinser berichtet, nicht seine erste Auseinandersetzung mit dieser zentralen Gattung der europäischen Musik. Es steht am Ende seiner koreanischen Schaffensphase. Yun suchte schon damals, die europäische Tradition der für den Konzertsaal komponierten Musik mit der Musik Ostasiens zu verbinden, sah aber noch keinen Weg, wie solche Bezüge überzeugend zu realisieren wären. Er hatte noch nicht zu seiner eigenen Sprache – seinen eigenen Stilmitteln und dem Rückbezug zur ostasiatischen Tradition – gefunden: dem langgezogenen Ton in zwölftönigen Klangfeldern. In seinem Streichquartett I setzt er sich mit Mitteln auseinander, die ihm bei europäischen Vorbildern begegnet waren (u. a. bei Maurice Ravel, Claude Debussy und Béla Bartók), insbesondere auch mit europäischen Rhythmen und Metren, deren Akzentstufen ihm nicht immer bewusst waren.
Vorhanden sind bereits typische Merkmale der für Yun auch später charakteristischen Dramaturgie, mit der er die Form zusammenzuhalten trachtet. Eigenständig ist der großzügige, vegetativ wuchernde Formbau: Yun reiht Gestalten bzw. thematische Bildungen, lässt sie kontrastierend auseinander hervorgehen und montiert sie zu einem mosaik- oder kaleidoskopartigen Ganzen. Dabei ist er auf Integration aus, schichtet sein Material übereinander und findet an den Satzenden zu einem rhythmischen Unisono. Rückgriffe und auch Reprisen tragen zu übergeordneten, brückenbildenden Zusammenhängen bei, die über die Satzgrenzen hinausreichen.
Die Harmonik ist vorwiegend diatonisch; grundsätzlich vermeidet Yun konventionelle oder auf eine erkennbare Systematik bezogene Zusammenklänge oder Abfolgen. Er sah ein Kunstwerk wahrscheinlich schon damals als energetischen Klangstrom und als Abbild einer Welt, dessen auseinanderstrebende Teile sich zu einem harmonischen Ganzen fügen. Alle drei Sätze zeigen einen formalen Aufbau in – zum Teil verschachtelten – dreiteiligen Bildungen. Der zweite Satz Andante phantastique enthält einen in sich dreiteiligen Mittelteil (Misterioso – Meno mosso – Misterioso). Der Wechsel der Charaktere ist auch in den Ecksätzen bereits aus den Tempo- bzw. Ausdrucksbezeichnungen ersichtlich:
I. Allegro moderato – Sostenuto – Più mosso – [Reprise]
III. ||: Allegro giocosamente – Allegretto :|| Andantino espressivo || Allegro moderato – Più mosso
Im ersten Satz bildet sich das gesanglich lockende Quintthema aus engmaschigeren Motivzellen erst heraus – melodisch tendiert Yun hier zu einer halbtonlosen Pentatonik, die der Musik asiatisches Kolorit verleiht. Er variiert sein Material; zum Wechsel von punktierten und lombardischen Rhythmen erklingt eine Marschintonation. Neues, vorhaltgesättigtes Material führt er in ruhigerem Tempo (Sostenuto) im Dreiertakt ein, geht im Vierertakt (Più mosso) dann zu synkopierten Rhythmen über. Das Violoncello – das Instrument, das Yun selber spielte – eröffnet den langsamen Satz, Andante phantastique, in dessen Thema wiederum die Quinte das zentrale Intervall bildet. Ein Siciliano-Rhythmus dominiert im Misterioso, dem kontrastierenden Mittelteil. Tänzerisch der dritte Satz, dessen zweites Thema an Bartók gemahnt. Rückgriffe auf den langsamen und den ersten Satz (Allegro moderato) runden die Konstruktion.
Walter-Wolfgang Sparrer (2015/17)
Novus String Quartet
Aparté AP125