Zimmergramm
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Bote & Bock
Ein spannendes, wenig bekanntes Kapitel der deutsch-mexikanischen Geschichte hat sich Enrico Chapela für sein Auftragswerk der Deutschen Welle ausgesucht: Zimmergramm spielt schon im Titel auf das "Zimmermann-Telegramm" an, mit dem Deutschland im 1. Weltkrieg Mexiko als Bündnispartner auf seine Seite gegen die bis dahin neutralen USA ziehen wollte. Arthur Zimmermann, Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, sandte die verschlüsselte Depesche im Januar 1917 an den deutschen Gesandten in Mexiko, Heinrich von Eckardt. Der britische Geheimdienst konnte Zimmermanns Telegramm allerdings abfangen und entschlüsseln – der brisante Inhalt führte eine Wende in der bisherigen amerikanischen Neutralitätspolitik herbei. Ohnehin provoziert von Deutschlands verschärftem U-Boot-Krieg, erklärte Präsident Wilson schließlich im April 1917 den Kriegseintritt der USA. So bewirkte das Zimmermann-Telegramm, gedacht als diplomatisches Husarenstück, letztlich das Gegenteil.
Chapela erzählt die Zimmermann-Episode vor allem aus mexikanischem Blickwinkel. Eingebettet ist die deutsche Avance in die verwickelte innenpolitische Situation in Mexiko nach Ausbruch der Revolution 1910. Chapela teilt seine "Mini-Oper", zu der er selbst den Text schrieb, in drei Akte mit jeweils zwei Sätzen: einer folkloristischen Erzählung, die dem "Son" aus der mexikanischen Tanz- und Volksmusik nachgebildet ist (stampfende Rhythmen, Gitarrenklänge, Percussioninstrumente wie Maracas und Guiro, historische Legenden als Inhalt) und einer dialogischen Szene ohne Folklore-Idiom.
Der erste Akt umfasst die Sätze "La Gran Guerra" ("Der Erste Weltkrieg") und "Guerra Submarina" ("U-Boot-Krieg"): Der Son-Chor berichtet zunächst über den Kriegsverlauf 1917, den deutschen U-Boot-Krieg und Präsident Wilsons Reaktion, gespiegelt in den Worten der beiden Gesandten in Mexiko, Eckardt (Deutschland) und Henry P. Fletcher (USA). In "Guerra Submarina" zitiert Eckhardt den Kernsatz des Zimmermann-Telegramms zu grotesk wirkenden Glissandi und abgehackten Phrasen, in die der Chor einfällt, als wenn das Volk dem Diplomaten beim Lesen neugierig über die Schulter schaut. Fletcher rüstet sich im Gegenzug mit wehrhaften Erklärungen seines Präsidenten.
Der zweite Akt beinhaltet als Son-Abschnitt "Revolución Mexicana" ("Die mexikanische Revolution") und als dialogische Passage "Alianza Seductora" ("Verführerisches Bündnis"). Der Chor erzählt von den Machtintrigen der Revolutionäre zwischen 1910 und 1917: dem Sturz des Diktators Porfirio, der Ermordung des nächsten Präsidenten Madero durch Victoriano Huerta und dessen Entmachtung durch die Truppen von Zapata und Pancho Villa – hier zitiert Chapela auch den Kampfruf "¡Tierra y libertad!". Der neue Präsident Venustiano Carranza laviert zwischen der Anerkennung durch die USA (gestützt durch Waffenlieferungen) und der Bekämpfung der Guerilla-Armee im Inneren. Villas Überfall auf die US-Grenzstadt Columbus hat eine erneute US-Militärinvasion in Mexiko zur Folge. Genau diese politische Instabilität und Mexikos Hass auf die US-Besatzer hatte sich Zimmermann zunutze machen wollen. In der Unterredung zwischen dem deutschen Diplomaten Eckardt und Präsident Carranza führt Chapela diese Strategie aus.
Der dritte Akt bringt als Son "Flamante Embajador" ("Frischgebackener Botschafter") und als Dialogszene "Bravata Americana" ("Amerikanischer Bluff"). Das Zimmermann-Telegramm ist mittlerweile entschlüsselt worden. Chorisch wird Fletchers Mission geschildert, Venustiano Carranza ein Ultimatum zu setzen. Doch Carranza lässt sich nicht erpressen. Die letzte Szene ist ein Showdown zwischen dem US-Botschafter und dem mexikanischen Präsidenten. Geschickt behält Carranza seine wahren Interessen im Auge: "¡Que viva la revolución!" – denn nur wenige Tage nach dem Zimmermann-Telegramm kann die mexikanische Verfassung ausgerufen werden und das Land beginnt sich endlich zu stabilisieren. 1920 wird freilich auch Carranza ermordet.
Zimmermanns Telegramm kam in dieser Phase der mexikanischen Revolution vielleicht zur Unzeit. Aus mexikanischer Sicht war das deutsche Angebot keinesfalls so unvernünftig, wie es heute scheint. Die ständigen Konflikte mit den USA waren für die Mexikaner viel präsenter als die deutschen Aggressionen. "Nicht Eckardt, sondern Fletcher ist der 'bad guy' in meinem Stück", sagt Enrico Chapela.
Kerstin Schüssler-Bach