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Am 8. Dezember hebt die Tschechische Philharmonie unter der Leitung von Semyon Bychkov die neue lyrische Sinfonie von Detlev Glanert aus der Taufe. Die Prager Sinfonie auf Texte von Franz Kafka stellt der Komponist im Interview vor.

Ihre letzte Lied-Sinfonie liegt 30 Jahre zurück. Was hat Sie zu dieser Mischform zurückgeführt?

Die Entscheidung, dass dies meine vierte Sinfonie sein würde, fiel erst recht spät. Das Werk wurde zunächst als eine Abfolge von Liedern mit Orchester konzipiert, aber als die Querverbindungen und Leitmotive immer deutlicher wurden, war klar, dass es eine verwobene groß angelegte sinfonische Partitur in der Tradition von Mahlers Lied von der Erde oder Zemlinskys Lyrischer Sinfonie werden würde. Wie bei meiner zweiten Sinfonie, die auf drei Lieder von Wolf Wondratschek komponiert ist, war die Entstehung dieses Werks sehr stark von den Texten bestimmt, im Gegensatz zu meiner ersten oder dritten Sinfonie – diese war von Shakespeares Macbeth in einem allgemeineren Sinne inspiriert, ohne auf die Stimme zurückzugreifen.

Was hat Sie dazu bewogen, Texte von Franz Kafka zu vertonen?

Es begann damit, dass mich Semyon Bychkov um ein Werk bat, das von der Tschechischen Philharmonie uraufgeführt werden sollte. Mit standen alle Optionen offen, aber es wurde schnell klar, dass Franz Kafka im Mittelpunkt des Projekts stehen sollte, der für Prag kulturell so wichtig ist und in einzigartiger Weise tschechische, deutsche und jüdische Traditionen miteinander verbindet. Er ist ein absoluter Meister der deutschen Sprache – was man in Übersetzungen natürlich nur ungenau bemerkt – und alles ist mit äußerster Präzision und Genauigkeit ausgedrückt. Das Werk wird in deutscher Sprache gesungen werden, Übersetzungen finden sich dann sicher im Programmheft oder auf Übertiteln.

Wie haben Sie die Fragmente aus Kafkas Werk für die zwölf Lieder ausgewählt?

Zunächst habe ich alle Gedichte, Aphorismen, Notizen gelesen und eine Sammlung möglicher Texte angelegt, auf die ich zurückgreifen konnte. Die meisten Menschen kennen seine großen Bücher und Erzählungen wie Der Prozess oder Die Verwandlung, aber es gibt noch eine andere Kafka-Welt, die sich in Fragmentform auch zum Beispiel in seinen Briefen und Tagebüchern eingebettet findet. Man entdeckt dann inhaltliche Verbindungen zwischen Themen und Materialien, die vielleicht 10 oder 15 Jahre auseinander liegen. Einige der Gedichte und Fragmente aus meiner umfangreichen Sammlung sprachen mich sofort an, und ich wusste, dass ich sie vertonen wollte. Eine Struktur für das Gesamtwerk wurde noch klarer, als ich erkannte, dass bestimmte Texte eine Geschichte über zwei Menschen, oder zwei Stimmen eine Geschichte über einen Menschen erzählen könnten – ich habe dann die Texte so zwei Stimmen zugeordnet, wie es formal z.B. Mahler und Zemlinsky getan haben.

Es gibt seit langem eine lebhafte Debatte über die Musikalität von Kafka. Was ist Ihre Meinung dazu?

Diese Debatte ist recht amüsant, denn es gibt viele Belege dafür, wie unmusikalisch Kafka war oder dass es ihm an ausgeprägtem Interesse fehlte. Wir wissen, dass er es hasste, wenn seine Worte vertont wurden, auch wenn sein Freund und Herausgeber Max Brod genau das getan hat. Aber für mich ist das nicht wichtig, denn in meiner Arbeit geht es nicht um die Person Kafka, sondern um das, was seine Texte über den Zustand des Menschen mitteilen.

Gibt es besondere Herausforderungen bei der Vertonung der "lyrischen" Seite von Kafka?

Ich habe unter anderem beschlossen, die Vorstellung zu widerlegen, dass Kafkas literarische Welt immer düster ist und sich ausschließlich mit Entfremdung und Klaustrophobie beschäftigt. Das mag in seinen bekanntesten Büchern zum Ausdruck kommen, aber es gibt definitiv eine lyrische Seite, die sich in seinen Gedichten und Textfragmenten zeigen. Es wird ja auch berichtet, dass er durchaus ein eleganter und oft unbeschwerter Mensch war, der gern lachte. Natürlich war er sich der sozialen und politischen Probleme seiner Zeit bewusst, aber er schildert die Welt so zutiefst menschlich, dass sie sich mit uns heute verbindet. So beschreibt beispielsweise das erste von mir ausgewählte Gedicht, wie wir uns fühlen, wenn wir Schmerz spüren, und das ist heute noch genauso aktuell wie bei seiner Niederschrift – innerhalb eines Briefes – im Jahr 1903. Kafkas Poesie durchzieht all seine Worte, Bilder und Rhythmen, was für einen Komponisten sehr suggestiv und eher anziehend als herausfordernd ist.

Wie hat Ihre Opernerfahrung Ihre Herangehensweise an dieses Werk beeinflusst?

Kafka arbeitet viel mit Phantasiebildern und Situationen, die den Opernkomponisten in mir ansprechen. Ich merke sofort, ob und wie sie sich in Musik umsetzen lassen könnten. Diese Komposition ist zwar mehr auf die Liedseite ausgerichtet als auf eine opernhafte Situation, aber meine Erfahrungen mit dem Theater haben mir sehr geholfen, Stimmungen und persönliche Situationen einzufangen und auch einen großen architektonischen Bogen von Musik ohne Unterbrechung zu konstruieren. Man könnte es also fast als eine einaktige Oper interpretieren, aber es bleibt natürlich ein Liederzyklus.

Welche Beziehung besteht zwischen den drei Protagonisten: Mezzo, Bass und Orchester?

Die Mezzo- und die Bassstimme sind einerseits zwei Seiten einer Persönlichkeit und drücken quasi janusköpfig einen inneren Dialog zwischen den gegensätzlichen Hälften einer einzigen Figur aus, andererseits sind es auch Stimmen zweier verschiedener Persönlichkeiten. Zusätzlich haben sie an bestimmten Stellen die Aufgabe einer Stimme von Außen. Für jeden Sänger gibt es eine Reihe eigener Lieder, aber sie können sich auch verbinden und Duette singen. Die Lieder beginnen isoliert, wachsen aber im Laufe des Zyklus nach und nach immer mehr zusammen, bis die Sänger im letzten Lied genau dieselbe Musik singen. Das Orchester ist das fließende Medium im Sinne eines Psychogramms zwischen den beiden, und in gewisser Weise bin ich, der Komponist, zwangsläufig das Orchester, so dass man auch von einer Dreiecksbeziehung sprechen könnte. Das ist meine persönliche Verbindung zu Kafkas Welt, zu seiner magischen Sprache.

Das Interview führte David Allenby (2021).

Detlev Glanert
Prager Sinfonie (2019–20)
Lyrische Fragmente nach Franz Kafka (Sinfonie Nr. 4)

8.–10. Dezember 2022 (Uraufführung)
Rudolfinum, Dvorák Hall, Prag
Übertragung der Aufführung am 9. Dezember durch den Tschechischen Rundfunk auf EBU
Catriona Morison, Mezzosopran /
Christian Immler, Bass-Bariton /
Tschechische Philharmonie /
Semyon Bychkov

14.–15. Juni 2023 (Niederländische Erstaufführung)
Royal Concertgebouw Hall, Amsterdam
Tanja Ariane Baumgartner, Mezzosopran /
Christian Immler, Bass-Bariton /
Royal Concertgebouw Orchestra /
Semyon Bychkov

22.–23. Juni 2023 (Deutsche Erstaufführung)
Gewandhaus, Großer Saal, Leipzig
Catriona Morison, Mezzosopran /
Christian Immler, Bass-Bariton /
Gewandhausorchester Leipzig /
Semyon Bychkov

>  Further information on Work: Prager Sinfonie. Lyrische Fragmente nach Franz Kafka (Sinfonie Nr. 4)

Foto: Detlev Glanert (© Bettina Stoess)

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