Boosey & Hawkes
Die Komposition bezieht sich dezidiert auf Franz Liszt, den genialen Pianisten, bedeutenden Anreger und großzügigen Förderer alles Neuen. Innerhalb seines vielgestaltigen kompositorischen Œuvres ragen einige Werke heraus, die das Signum des singulären "genialen Wurfs" tragen. Dazu zählen sicherlich die Etudes d’exécution transcendante und einige späte Klavierstücke, in denen sich bereits impressionistische Harmonik, Bitonalität, ja Atonalität ankündigt:
Im 7., 8. Takt von Feux follets aus den Etudes findet dich z. B. eine kühne "bitonale" Figur, die – auf beide Hände verteilt – aus den Tönen G / E / C / A / Des / B / Fis / Es besteht. Aus diesem "Tonrepertoire" habe ich folgende Struktur entwickelt:
Durch Übersetzung dieser Tonkonstellation in korrespondierende Tondauern (auf der Basis der Proportion 5:6) entstand das metrische und – durch das Verfahren der Projektion – formale Gerüst für die gesamte Komposition. Sie besteht demgemäß aus acht Abschnitten, die in ihrer musikalischen Charakteristik deutlich voneinander abgehoben sind.
Neben dieser Strukturellen Einheit stiftenden "Keimzelle" übernehmen zwei weitere Motive aus Feux follets eine über den letztlich stets "anekdotischen" Charakter eines Zitates hinausgehende musikalische Funktion: die aus einer unregelmäßigen chromatischen Skala gebildete Zweiunddreißigstel-Figur am Anfang sowie das prägnante rhythmische Motiv im 9. Takt. Im Verlauf meines Werkes kommt schließlich noch ein weiteres Liszt’sches Element ins Spiel: das markante Tritonus-Motiv vom Anfang des späten Klavierstücks Unstern (auch Baudelaire). Alle drei Motive werden auf vielfältige Weise verarbeitet, miteinander kombiniert etc., mit einem Wort: "durchgeführt". So fehlt dieser "Sonate" das formal überflüssig gewordene Moment der Exposition, da buchstäblich alles Durchführung ist, aber eine, in der "das Ohr mit dem Material lebendig anhört, was daraus geworden ist". (Th. W. Adorno, Vers une musique informelle)
Die 2. Klaviersonate ist meiner langjährigen Lebensgefährtin Gisela Sewing gewidmet, die im Juli 1987 auf tragische Weise ums Leben kam.
Pi-hsien Chen
CPO 999 954-2 (2003)