1.1.1.1-1.0.0.0-perc:xyl/glsp/3susp.cym/BD/tam-t or low gong/5tom-t-harp(or pft)-strings
Abbreviations (PDF)
Bote & Bock
Mit dem Willen, in seiner Kunst Probleme der Gegenwart zeitlos und allgemeingültig zu thematisieren, griff Yun 1980 zur eher esoterischen Lyrik der Nelly Sachs (1891-1970). Die jüdische Dichterin war 1940 von Berlin nach Stockholm ins Exil getrieben worden. Die Erfahrung der Nazi-Diktatur hat ihr u. a. von jüdischer bzw. chassidischer Mystik beeinflusstes Schaffen wesentlich geprägt.
Aus dem 1971 posthum erschienenen Gedichtband "Teile dich Nacht" hat Yun drei Texte zur Vertonung als Solokantate ausgewählt. Diese verschlossene Tür - die erste Strophe des zweiten von drei Gedichten mit dem Titel "Suche nach Lebenden" (Winter 1969/70) - verweist unmittelbar auf den Holocaust. Vor meinem Fenster kann als Reflexion menschlicher Beziehungen in einer entfremdeten Gegenwart gelesen werden; der Text ist - wie auch der von Teile dich Nacht - im Oktober 1969 als selbständiges Kurzgedicht entstanden. Das dritte Gedicht, das sechszeilige Teile dich Nacht, hat Isang Yun als eine Mahnung begriffen, die den Menschen nötigt, sich für eine bessere Zukunft zu entscheiden.
Stellvertretend für alles Unrecht klagt das Gedicht Diese verschlossene Tür die Haltung des Wissens, aber Nicht-Tuns in bezug auf die Greueltaten der faschistischen Konzentrations- und Vernichtungslager an. In der für Nelly Sachs (wie auch für Isang Yun und das ostasiatische Denken) charakteristischen Bewegung der "Verwandlung" bringt der Text aber auch eine tröstliche Wendung, wenn es heißt "Der Tod aber ist offen / Erst dahinter leben die Geheimnisse".
Das zweite der Gedichte, das Yun für seine Komposition auswählte, geht umgekehrt vom Bild des geöffneten Raums (bzw. Fensters) aus, das lebendige Teilnahme wie Differenzen einer Ich-Du-Beziehung zur Sprache bringt.
Im abschließenden Text Teile dich Nacht überlagert sich die persönliche Todesahnung der Dichterin mit einer apokalyptischen Vision. Zum Verständnis der Metapher der geteilten Nacht mag ein Satz beitragen, den Jacob Grimm im Nachtrag seiner Deutschen Mythologie (1835) veröffentlicht hat: "So teilt mit ihrem Flügelschlag die Krähe die Nacht, so dass Licht durchdringt." Indem die beiden Flügel der schwarzen Krähe das Licht der Nacht verdunkeln, wird uns die Existenz dieses Lichts überhaupt erst bewusst. Eine Interpretation, die zum Verständnis des Sachs-Textes das Bild der Krähe interpoliert, lässt auch die Sicht aus der Vogelperspektive oder - darüber hinausreichend - aus kosmischer Distanz anschaulicher werden: Die Flügel der Krähe (der Nacht) zittern vor Entsetzen im Blick auf die Erde. Die Zeile "denn ich will gehn" ist sowohl als Todesahnung wie auch im übertragenen Sinn als Gedanke der Spaltung (oder Teilung) zu lesen: Das, was geht, kann (in Anlehnung an Martin Buber) als die Berühung des Du, das Beziehung und Teilhabe ausmacht, verstanden werden oder schlicht als positive Kraft (auch die der Vernunft), deren Abwendung oder Weggang den "blutigen Abend" zurückbringt.
Die Thematik inspirierte Yun zu einer Vertonung für Sopran und Kammerensemble, die auch vor offenen, sogar in Generalpausen artikulierten Kontrasten nicht zurückscheut. (Offene Kontraste bilden in seinem Œuvre eine Ausnahme, da sie seinem ästhetischem Credo nahtlos fließender Verläufe zuwiderlaufen.) Das Werk beginnt mit einem raschen und heftigen Tutti (Holzbläser, Horn, Harfe oder Klavier, Streicher, von zahlreichen Schlaginstrumenten hier das Xylophon). Langsamer, gleichsam "unbewegt" und in dunklen Farben vertont Yun die Zeilen "diese verschlossene Tür / dahinter geschah das Furchbare" im Sprechgesang, wobei die Vortragsanweisungen von heftig anklagend zu fast stimmlos reichen. Nach einer kommentierenden Tutti-Interjektion erscheint die Zeile "Du siehst was dahinter geschah" zunächst als ein gesungener Bericht und ihre Wiederholung im Sprechgesang sodann als eine Anklage. Die Fragen nach Ferne und Tod übersetzt Yun im Tonhöhenverlauf des nach oben gewölbten Halbkreises, einem archetypischen musikalischen Symbol des Himmels.
Als Überleitung zum zweiten Gedicht Vor meinem Fenster fungiert ein Zwischenspiel mit im Doppelflageolett glissandierenden Streichern, Harfe oder Klavier, Glockenspiel und einem Flötensolo, das den Vogel symbolisiert. Wiederum sind starke dynamische Kontraste auffällig. So ist die Dynamik bei der Zeile "der schilpende Vogel" stets äußerst leise, während Yun sein Schilpen im Nachklang als musikalisch erregtes Ereignis gestaltet.
Als ein großes Crescendo komponiert Yun die Überleitung zum dritten Gedicht Teile dich Nacht. Appellativ vertont er die erste Zeile. Als ein Höhepunkt erklingt fast wie ein Schrei die Zeile "denn ich will gehn"; flüsternd wird sie in einer Art Coda im Sprechgesang wiederholt. Das Verstummen ist hier auskomponiert.
Walter-Wolfgang Sparrer (1999)
Dorothy Dorow, soprano / Ensemble Intégration Saarbrücken / Hans Zender
Internationale Isang Yun Gesellschaft IYG 002