Bote & Bock
Im Abstand von jeweils zwei Jahren komponierte Isang Yun 1988, 1990 und 1992 die Streichquartette IV, V und VI. Mit seinem viersätzigen Streichquartett VI (1992) erfüllte er – wie zuvor bereits in dem Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 (1981) und der Symphonie I (1982/83) – die Konventionen der klassisch-romantischen Gattung in der ihm eigenen Sprache von neuem. In dem zweisätzigen Streichquartett IV (1988) folgt auf einen bewegten ersten Satz – der Schilderung eines Lebensprozesses – ein langsamer (und melancholischer) zweiter Satz, auf das aktive Yang das stille Yin. Diese Konzeption variierte Yun für sein Streichquartett V, indem er die Abfolge bewegt – unbewegt in einem äußerlich einsätzigen Werk verdichtete. Im Vergleich zum vierten Streichquartett entfaltet er in dem kürzeren fünften eine herbere, konflikthaftere Klanglichkeit.
Der erste Teil umfaßt 160 Takte und scheint vom Dualismus zweier gegensätzlicher Prinzipien getragen: einer ruppigen, marschartig deklamierenden Motivik stehen melancholisch-kantable Gesten wie leise flehende Trillerketten gegenüber. Das gesangliche Prinzip gewinnt die Oberhand zumal in einem ausgedehnten Abschnitt mit leiser Dynamik (T. 49-88), der in den insgesamt dramatisch bewegten ersten Teil eingesenkt ist.
Streichquartett V beginnt mit einem – im lombardischen Rhythmus artikulierten – akkordischen Gerüstklang aus kleiner Sept und Tritonus (cis-h-f1), auf den die Bratsche (mit der fallenden Quart es1-b) sofort motivisch reagiert. Bei der variierten Wiederholung erweitert Yun das zuvor ausschließlich rhythmisch bestimmte Motiv des Gerüstklangs um einen abwärts glissandierenden Ganzton. Eine solistische Phrase der Bratsche wird nun zunächst von der lombardischen, im Keim marschartigen Motivik beantwortet, dann aber von einer piano artikulierten Terz der Violinen. Diese konfrontiert Yun mit ruppigen Klanggesten der tiefen Streicher. Die paarweise Bündelung und Differenzierung in (oft herb deklamierende) tiefe und (oft gesanglich flehende) hohe Streicher ist auch für den weiteren Verlauf charakteristisch.
Nach dramatischen Steigerungen intonieren die Violinen in dem leiseren Abschnitt mit zunächst "leeren" Quintparallelen einen Zwiegesang, zu dem Pizzicati der tiefen Streicher rhythmische Impulse geben. Auch das Stilmittel des "Rollentausches" wird hier eingesetzt: Die tiefen Streicher übernehmen (und variieren) das Material der hohen und umgekehrt. Der von den Gruppen kurz hintereinander exponierte Tritonus f2-h2 bzw. h3-f 4 verweist scheinhaft auf Einheit und Einung, zeugt aber durch seinen Symbolgehalt als "diabolus in musica" [Teufel in der Musik] zugleich von den Schwierigkeiten dieses Einigungsprozesses. Konflikthaft erscheint sodann erneut das kontrastierende Nacheinander der tiefen und hohen Streicher.
Ein Auf- und Ausbruch in aufwärts geführten Figurationen zumal der ersten Violine führt über konzertant aufgefächerte Gesten schließlich in ein fast unisones, einheitlich roh und fast marschartig deklamierendes Klangfeld. In den blockhaft geschichteten Satz werden dann Ricochet [Springbogen]-Effekte der Violinen zur Regeneration der musikalischen Kräfte eingesprengt, die das Marschieren in alptraumartig-schattenhafter Ferne fortsetzen. Nach der Wiederaufnahme des Marschgestus erfolgen nochmals individualistisch-konzertant zerfaserte Ausbruchversuche, die wiederum im Hin und Her zwischen Marsch und Schrei enden.
Die letzten Minuten bringen Ruhe und Tröstung in der Stille eines langsamen Schlusses. Das in hohe Lagen geführte Violoncello – das Instrument, das Yun selber spielte – tritt einsam hervor und findet einen Dialogpartner in der Stimme der Bratsche. Überraschend und anrührend werden schließlich Anspielungen auf Schubert (mit einem vierstimmig-homophonen Satz) und Mozart (lichte vorhaltsartige Aufwärtsmotive) aus gleichsam traumhaft-schöner Ferne eingesprengt.
Walter-Wolfgang Sparrer (1999)