Bote & Bock
Das zweisätzige Streichquartett IV komponierte Yun "für Günter Freudenberg zum 16. September 1988 in Freundschaft". Mit dem Philosophen Günter Freudenberg, der an diesem Tag seinen 65. Geburtstag feierte, war Yun, der einen Tag später sein 71. Lebensjahr vollendete, seit Beginn der sechziger Jahre befreundet, verbunden auch durch die Arbeit zur Demokratisierung und Wiedervereinigung des geteilten Korea. Den gut zehnminütigen ersten Satz, dem aktiven Yang-Prinzip verpflichtet, nannte Yun "lang und aktuell, eine Art Lebensgeschichte"; der "sehr humane, etwas kürzere zweite Satz" zeige dagegen die andere, nach innen gewandte Seite. In einem fast nahtlos aus kleinen und kleinsten Elementen gewebten dramatischen Prozeß zielt der erste Satz wie ein auskomponierter Doppelpunkt auf den stillen und ausgesparten Klang des langsamen zweiten Satzes.
Am Anfang steht eine langsame Einleitung aus 13 Takten in dem bei Yun seltenen Tonfall des Als-Ob: Er zitiert die Aura klassisch-romantischen Komponierens. Mit dem Beginn auf dem Ton F (wie Freudenberg) im Violoncello – dem Instrument, das Yun selber spielte – setzt er sich und seinen Freund in Beziehung und entfaltet, jugendliche Hörerfahrungen symbolisierend, in den ersten vier Takten harmonisch und sogar melodisch eine Kadenz der Folge F-B7-F7-B7. Gleichwohl verfremdet und erweitert er das tonal Eindeutige, wenn er zum Beispiel die Quint des letztgenannten Akkords zu fis alteriert.
In den folgenden Takten begibt sich Yun vollends in seine "ureigene" Idiomatik: Die tiefen Streicher spielen in relativ hoher Lage und bringen zugleich neues Material – Triller, Triolen und Glissandi. Ein "bewegliches" Solo der ersten Violine attackiert sodann das "starre" Akkordgerüst der übrigen Streicher.
Yun, der nicht allein "Töne", sondern Klang als Sprache komponierte, organisiert im rivalisierenden Prozeß des "Sichabarbeitens" der Energien im musikalischen Raum ein wellenreiches Fortströmen der in wechselnden Allianzen oft paarweise geführten Instrumente. Immer wieder setzen kraftintensive Klangbildungen von der Tiefe her ein und führen steigernd aufwärts in Bereiche äußersten Ausdrucks (und äußerster Erregung). Als Kontrast wie Einspruch antwortet so zum Beispiel einem in extrem hohe Lagen geführten Duo der Violinen die Doppelgriffvehemenz der tiefen Streicher. Kompendienhaft reiht Yun Klang- und Spieltechniken; in rastloser Bewegung zielen Verwandlungs- und Verarbeitungsprozesse auf Harmonie und Balance. Doch nur bedingt wird ein Ausgleich durch den fortschreitenden Verschmelzungsgrad der Gestik und des Instrumentalklangs erreicht: Charakteristisch wirkt hier unter anderem die Kombination der trillernden und glissandierenden Fläche der "Streicherblumen" mit den angerissenen Saiten des Violoncellos, dessen Artikulation vom Klang der koreanischen Langzither komun'go inspiriert ist.
Fast resignativ beginnt der zweite Satz monologisch in sich kreisend. Die Rezitation auf nur einem Ton scheint – wie auch schon im ersten Satz – den Herzschlag nachzubilden. Den flehenden Tonfall des Cellos und der Bratsche beantwortet ein Doppelflageolett der Violinen. Der Bewegungszunahme und Verdichtung im Mittelteil folgt ein knapper reprisenartiger Epilog. Hier erklingen vor allem in der ersten Violine jene Elemente von Yuns letztem Stil, die ihm selber aus fernen Klangwelten zu kommen schienen.
Walter-Wolfgang Sparrer (1996)
Quartet 21, Seoul: Hyunmi Kim (1st violin), Sungeun Cho (2nd violin), Chanjoo We (viola), Kyungok Park (cello)
Internationale Isang Yun Gesellschaft IYG 001