Bote & Bock
Sori bedeutet koreanisch etwa "gesungene Stimme" oder eine Art "Szenen-Gesang" der alten koreanischen Oper. In diesem Stück wird die Flöte als eine imaginären Stimme der Gesangsszene in die Fantasie umgesetzt.
Das Stück besteht aus einem relativ langen, schnelleren und einem langsamen, meditativen Teil. Der erste Teil beginnt in tiefer Region mit reicher Melismatik sukzessiv nach aufwärts, einen großen Bogen bildend zurück wieder in die Mittelregion. Dabei die einheitlichen Gliederung von "Umspielungen" und "Haupttönen" sorgen nahtlose Aneinanderreihungen der spezifischen linearen Charakter meiner Musik.
Der zweite Teil ist zwar umspielungsarm, aber zwischen oft gleichbleibenden Tonhöhen und Vierteltonschwankungen einerseits, und durch kurzen Vorschlägen ständig verändernden Farbmarkierungen andererseits, kommt zum Ausdruck, "Bewegtheit in Umbewegtheit" und das "Gleichnis von YANG-YIN" in der asiatischen TAO-Philosophie.
Sori wurde in der »Stille am See« im südschwedischen Sweg komponiert und ist Roberto Fabbriciani gewidmet. Das koreanische Sori bedeutet »Stimme« oder »Gesang«. Die buddhistische Vokalmusik unterscheidet dabei zwei Aufführungspraktiken: kotch’aebi-sori (»Außen-Gesänge«) und anch’aebi-sori (»Innen-Gesänge«). Die »Außen-Gesänge« sind Teil der öffentlichen Kulthandlungen; zu den »nach außen dringenden Stimmen« gehören die festlichen, reich verzierten melismatischen Gesänge pômp’ae ((pÚmp'ae)). Zu den internen Zeremonien, der Musik im Innern des Tempels, zählt die sparsamere, vorwiegend textbezogene Sutren-Rezitation yômbul ((yÚmbul)). Bei der Titelwahl dürfte Yun jedoch auch die Tradition des p’ansori, des koreanischen Epengesangs, assoziiert haben. Letztere scheint den zweiten Teil von Sori zu charakterisieren, während der dritte Teil auf zen-buddhistische musikalische Traditionen bezogen ist.
Sori ist dreiteilig angelegt: Auf einen einleitenden, unruhig-instabilen Teil im raschen Tempo und einen ruhigeren zweiten Teil im mittleren Tempo folgt ein »unbewegt«-kontemplativer langsamer Teil von fast sieben Minuten Dauer. Zu Beginn des ersten Teils exponiert Yun sein Material in dichten, flirrenden Figurationen, deren Konturen in Sekundintervallen stufenweise aufwärts führen, während die Abstürze in größeren Intervallen erfolgen. In weiten Intervall-Sprüngen, die etwas etwas ruhiger artikuliert werden, eröffnet Yun zuletzt energisch einen Tonhöhen-Raum von mehr als zwei Oktaven. Kein Ton jedoch erscheint in dieser Phase stabil.
Der zweite Teil bringt den Energiestrom einer intensiven, dramatisch gespannten Erzählung. Yun befestigt hier einzelne, stufenweise aufwärts artikulierte "Haupttöne" durch Glissandi- und Viertelton-Verfärbungen. Immer wieder brechen die Haupttöne in die Tiefe oder Höhe aus und werden durch das Zirkulieren um nur einen Hauptton in verschiedenen Oktavlagen ausbalanciert.
Im dritten Teil ist eine meditative Grundhaltung erreicht. Sein bogenförmiger Verlauf erinnert vage an die Etüde I für Flöte solo (1974), allerdings in einer langsamen und leisen Variante.
In Sori ist – wie allgemein in Yuns Spätwerk – eine Tendenz zum Diatonischen auffällig, die der Komponist als Abstraktion, als »Aussparung alles Überflüssigen«, erklärte.
Walter-Wolfgang Sparrer (2006)
Shih-Chun Chen
Internationale Isang Yun Gesellschaft IYG 006