Bote & Bock
Mit einer Reihe von nachdrücklich lyrischen Werken markiert das Jahr 1984 den Beginn einer letzten Schaffensperiode von Isang Yun. Im Quintett für Klarinette und Streichquartett Nr. 1 bildet Yun, vermittelt durch das Verfahren der entwickelnden Variation, in vier Formabschnitten fließende Klangprozesse aus. Es dominiert die Stimme der Klarinette, von der – Ausdruck des aktiven Yang-Prinzips – der Impuls zur Veränderung ausgeht. Dabei erweisen sich Reibungen, die die Musik vorantreiben, fast immer als Abweichungen einer übergreifenden, allen Stimmen gemeinsamen Tendenz. Diese ist vielfach durch den Gestus der melodischen Aufwärtsbewegung charakterisiert, die – so Yun – "als Merkmal der Befreiung des Atmens, des musikalischen Fühlens und Denkens, als Gewinn raumgreifender Befreiung" zu verstehen ist.
Mit den Lagen im musikalischen Raum verband Yun stets auch symbolische Vorstellungen von "oben" und "unten" oder Himmel und Erde. Das Besondere der Komposition ist die Art, wie die Klarinettenstimme den Raum ausschreitet: Yun erstrebte hier eine "unendliche Melodie". Diese Aussage kann interpretiert werden als ein Zugewinn an expressiver Flexibilität und formaler Ausgewogenheit der melodischen Gestaltung, in der reine und konsonante – also kantable – Tendenzen hervortreten. In sich wellenartig gebrochen, zeigt diese Melodik in einem ersten Abschnitt von e über g3 nach fis1 in den Umrissen einen nach oben gewölbten Halbkreis: Sinnbild des Himmels. Der zweite Abschnitt führt von e3 über f bzw. g nach gis3 und bezieht, von der erreichten Höhe aus, erdhafte Tiefen ein. Der dritte Abschnitt, mit rufartigen Tonrepetitionen auf b3(!) eingeleitet, mündet steigernd in eine Art Diskussion zwischen "oben" und "unten". Der Schluß – die Streicher sind sordiniert – bringt den Ausgleich in einem lyrischen Abgesang, bei dem das Soloinstrument von d über f3 zum d zurückgeführt wird. Der hohe Konsonanzgrad resultiert aus der konsequenten Ausarbeitung eines beschränkten Materials. Gelegentliche Anklänge an Idiome Alban Bergs finden ihre kompositorische Entsprechung in Klangtechniken wie z. B. ineinander verschachtelten kleinen Sexten, die um einen Ganzton versetzt sind.
Das Quintett für Klarinette und Streichquartett Nr. 1 ist ein Auftragswerk des Internationalen Sommerfestivals Kusatsu (Japan).
Walter-Wolfgang Sparrer (1997)