Bote & Bock
Das koreanische Gagok (oder Kagok) - wörtlich "Lied-Stücke" - bezeichnet eine spezifische Gattung des höfischen bzw. aristokratischen Kunstlieds in Korea. Für dieses ist ein langsames Vortragstempo charakteristisch, wobei die einzelnen Textsilben lang ausgehalten und melismatisch gedehnt werden. Die Ästhetisierung des Singens reicht im Interesse des Wohlklangs so weit, daß die Silben sogar in ihre vokalen Bestandteile zerlegt werden. Damit die Sängerin oder der Sänger Atem holen kann, werden diese bisweilen sogar noch unterbrochen und beim Neuansatz emphatisch betont. Der Sinnzusammenhang des Textes geht dabei verloren.
Das altkoreanische Gagok basiert auf der Tan'ga-Lyrik, auf Kurzgedichten von nur drei Zeilen zu je fünfzehn Silben. Der Text eines Tan'ga-Gedichts wird auf fünf musikalische Abschnitte (Chang) verteilt. Nach dem dritten Chang erklingt ein instrumentales Zwischenspiel (Chungyôûm); der vierte Chang enthält nur drei Silben und bringt die "Wende" zum poetischen Höhepunkt.
Das klassische Gagok besitzt unter den Kunstliedgattungen das umfangreichste Begleitensemble: Die Sanduhrtrommel Changgo sorgt für die rhythmisch-metrischen Impulse; gezupfte und geschlagene Saiteninstrumente stützen die Melodie, während die Blasinstrumente und die Spießgeige Haegûm den Gesang ornamental umspielen.
Yun ging es in seiner Komposition insbesondere um die charakteristische Ausprägung des Vokalstils. Damit seine Phantasie nicht eingeengt würde, verzichtete er auf einen konkreten Text und griff zu chinesischen und koreanischen Klangsilben. Den Begleitapparat des Claudia Behrend, Siegfried Behrend und Siegfried Fink - den Interpreten der Uraufführung - gewidmeten Werks reduzierte er auf die Gitarre und ein farbiges Ensemble von Schlaginstrumenten: 2 Handglocken, 4 Gongs, 2 Schellenbündel, 5 Tom-Toms, Glockenspiel, 5 Tempelblocks, 4 Becken, die koreanische Mehrschlagpeitsche Bak, 2 Triangeln, 2 kleine Zimbeln. Die fünfteilige Form des traditionellen Gagok samt eingeschobenem Zwischenspiel bildete Yun relativ exakt nach. Den klassischen Gagok-Stil verfremdete er jedoch erheblich. So verlangt er auch den Instrumentalisten Klangsilben ab, die den Gesang rhythmisch interpungieren und die Solisten an einer Stelle sogar durch ein "hoi!" anfeuern. Dieses Verfahren verweist auf eine weitere Vokalgattung der koreanischen Musik: auf den volkstümlichen Epengesang P'ansori. - Präzise charakterisiert Yun im Vorwort der Partitur die Ausdruckscharaktere: "gelassen - aggressiv - meditativ - ekstatisch". Das klassische Gagok wird hier zu einer Zeremonie archaischen Ursprungs: Singend gerät eine Schamanin in ekstatische Entrückung, um mit der Geisterwelt in Berührung zu kommen.
Walter-Wolfgang Sparrer (1999)