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Bote & Bock
Isang Yuns Der Herr ist mein Hirte bildete den - vorläufigen - Endpunkt einer Trilogie mit Vertonungen von Texten der Nelly Sachs, der jüdisch-deutschen Lyrikerin, die 1940 von Berlin aus ins schwedische Exil getrieben wurde. Vorausgegangen waren die Solo-Kantate für Sopran und Kammerensemble Teile Dich Nacht (1980) und der Chor mit Solo-Violine und Schlagzeug O Licht ... (1981). Yuns letzte Vertonung von Nelly Sachs erfolgte 1987 in der Bariton-Partie der Symphonie V. Während Yun in Teile dich Nacht, dessen Text aus drei späten Gedichten der Nelly Sachs besteht, stellvertretend für alles Unrecht den Holocaust bzw. faschistische Gräuel der Vergangenheit und die Gefahr ihrer Wiederkehr thematisiert, begibt er sich in O Licht... mit einem der Amitabha-Verehrung gewidmeten buddhistischen Gebet, das er um zwei Gedichte der Nelly Sachs erweitert, tief in die ostasiatische Tradition.
O Licht ... basiert auf einem Gebet des Mahayana-Buddhismus und zwei Gedichten aus Nelly Sachs' Zyklen Fahrt ins Staublose und Noch feiert der Tod das Leben (beide 1961). Dabei geht es um "Lichtmusik aus Ebbe und Flut", um die "unverwundeten Ewigkeitszeichen: Leben – Tod - " (Nelly Sachs) oder - buddhistisch formuliert - um die (Wieder-)Geburt im Licht. Im Gegensatz zu O Licht ... pointiert Yun mit Der Herr ist mein Hirte - in der Auswahl, Anordnung und Vertonung der Texte – eher europäische Traditionen. Den Tröstungen verheißenden Bibeltext des 23. Psalms stellt er den "Chor der Tröster" aus Nelly Sachs' umfangreichen Holocaust-Zyklus In den Wohnungen des Todes (1947) gegenüber.
Die Posaune, die den Chor solistisch einleitet, kommentierend begleitet und interpungierend vorantreibt, gilt seit jeher als "ganz für die Religion und nie fürs Profane gestimmt" (Christian Friedrich Daniel Schubart, 1784). Sie eröffnet die Komposition mit dem Sprung vom ruhenden tiefen A zum eingestrichenen fis, einem Klangraum also, den Yun in den ersten Takten auslotet wie das "finstere Tal" oder die "Tiefe des Hohlwegs", wovon im Psalm bzw. bei Nelly Sachs die Rede ist.
Im ersten Teil, der mit 109 Takten fast die Hälfte des achtzehnminütigen Werks währt, exponiert Yun nacheinander Verse des Psalmtextes sowie den Beginn des "Chors der Tröster" von Nelly Sachs: Die Tröster sind zwar Gärtner, doch gibt es kein Heilkraut für den (auch hier wohl vor allem politisch konnotierten) Schmerz "von Gestern nach Morgen". In dem Augenblick, in dem als "neuer Same", als Hoffnungsfunke, der "nächtliche Sänger" auftaucht, blendet Yun die beiden Textschichten erstmals übereinander: Das Bild des Cherub, der "zwischen Gestern und Morgen / Steht", erscheint in der Musik gleichzeitig mit der Wiederkehr des Psalmtextes vom Herrn und Hirten. Dennoch bleibt hier - am Ende dieses (fast neunminütigen) ersten Teils - eine wesentliche Differenz bestimmend: Während der christliche Text von den Frauen leise gesungen wird, skandieren die Männer die Nachricht von der Existenz des Cherub kraftvoll und auf Tonhöhen sprechend. (Die Schönbergschen Abstufungen - mit oder ohne fixierte Tonhöhen gesprochen, halb gesungen und gesungen - verwendet Yun vorwiegend für den Text der Nelly Sachs, während die ostasiatischer Tradition entstammende Differenzierung in ein Glissando ohne und ein Glissando mit Vibrato überwiegend der gesungenen Sprache vorbehalten ist.)
Die Gleichzeitigkeit der beiden verschiedenen und vokal zunächst verschieden behandelten Texte behält Yun auch im zweiten Teil (T. 110-158) bei, bis sich der metaphorische Text der Nelly Sachs zu kosmischer Höhe aufschwingt: "Und stehn auf einem Stern, der strahlt / Und weinen." Yun komponiert auf ein Ziel zu: Die bisherige Verlauf, die bisher geleistete kompositorische Arbeit, ermöglicht es, diese tröstlich-hoffenden, wenn auch durch Tränen gebrochenen Schlusszeilen des "Chors der Tröster" als "schönen" Gesang in der Stimme des Soprans (der Chorsoprane) solistisch herauszuheben.
Dieser Durchbruch bildet dann auch die Voraussetzung für den homogeneren Schlussteil (T. 159-216): "Und ob ich wander(t)e im finstern Tal, fürchte ich [doch] kein Unglück". Und als wäre dem durch Auslassungen und Umstellungen kritisch behandelten Bibeltext nicht ganz zu trauen, kehren hier nochmals zwei mahnende Sätze der Nelly Sachs wieder: "Kein Heilkraut läßt sich pflanzen" und – als Fortissimo-Einwurf - die Zeile, die Yun 1987 in seiner Symphonie V isoliert wie einen vokalen Felsen in der symphonischen Brandung wiederverwandte: "Wer von uns darf trösten?"
Die Partitur wurde abgeschlossen in Berlin-Kladow am 31. Dezember 1981. Das Werk ist eine Auftragskomposition des Württembergischen Kammerchors Stuttgart. Es kam zustande auf Anregung von Armin Rosin, der bei der Uraufführung den Posaunenpart spielte.
Walter-Wolfgang Sparrer