BlauWaldDorf weit-aus-ein-ander liegende Tage
(BlueWoodVillage distantly apart days) (2001)3 deaf female soloists,Bar,B; chorus;
solo elec.gtr-1.1.2.bcl.0-3.3.3(III=dbtrbn)-perc(3)-prepared pft(=cel,kbd sampler)-strings(8.4.6.4.3)-live electronics
Abbreviations (PDF)
Bote & Bock
"Meine Musiken sind Doku-Dramen, sie kreisen um das Problem, dass Leute überhaupt Sprache und damit Beziehungen haben. Und sie ist Reaktion auf einen Mangel, Ersatz für Vermißtes, Ausfüllen einer Leere, Fixieren einer Losheit. Meine Muttersprache ist die Gebärdensprache, Lautsprache habe ich im Alter von etwa 4 1/2 Jahren gelernt." (Helmut Oering)
Helmut Oehring, Sohn gehörloser Eltern, entwirft in dieser neuen Arbeit – keine Oper im herkömmlichen Sinne – seine Ideenwelt auf der Suche nach einem utopischen Ort, wo Verständigung möglich wird. Aus dem ganz persönlichen, außergewöhnlichen Umgang mit Kommunikation (das Pendeln zwischen gehörloser und hörender "Welt") resultiert der Wunsch nach der unmittelbaren Wirksamkeit und Eindeutigkeit von Sprache - die "Unmissverständigung".
Szenen, Einblendungen und Klanginstallationen geben den wechselnden Textfragmenten (u.a. aus Andersens Die kleine Meerjungfrau und Thomas Morus Utopia) ihr Medium, Orte der Verständigung, der Mitteilung zu suchen.
Am Ende von BlauWaldDorf sind noch einige Texte eingefügt, die bereits in dem früheren Musiktheaterwerk Dokumentation I verwendet wurden – scheinbar ganz alltägliche Sätze in Gebärde und Laut – der Emphase des Märchenerzählens entgegengesetzt.
"BlauWaldDorf ist ein radikaler Ableger von Luigi Nonos Tragödie des Hörens. Das Verschwinden der Texte in der Musik, in einer visionären Tonsprache als ‘sprachloser Botschaft aus dem Innern’, wie Helmut Lachenmann es formulierte, treibt Oehring auf die Spitze. Zugleich ist es eine Märchenoper, da Oehrings utopische ‘Kindersehnsucht’ darin nistet, die Fremdheit dieser getrennten Welten zu überwinden...
Inseln der Isolation, der Verlassenheit, verzweifelter Trauer, Orte verstummter Kommunikation hat Oehring mitten jede seiner vier Stationen gesetzt. Es sind Bearbeitungen von Monteverdis Trauermotiv aus dem Lamento d’Arianna. Christina Schönfeld steht in einem Lichtkegel, und ihre stöhnenden Atemgeräusche machen die gequälte Seele hörbar. Beim letzten Mal wird das Keuchen gefolgt von einer schreienden Stille, ohrenbetäubend. Hellhörig werden für das vermeintlich Stumme, das zum Schweigen gebrachte: Dieses Utopia steigt bei dieser großartig komplexen Aachener Uraufführung eindrucksvoll auf aus dem Meer der Musik." (Svenja Klaucke, Süddeutsche Zeitung, 14.05.2002)
"Helmuth Oehring ist und bleibt ein Phänomen... Und die Verknüpfung von Gesang, gesprochenem Wort und Gebärdensprache - für den Sohn taubstummer Eltern unverzichtbare Ingredienz seiner Musik, für ein hörendes Publikum jedoch leicht exotisch anmutend - gewinnt zunehmend an Klarheit und Verständlichkeit, wobei sie den Geruch des ganz Außergewöhnlichen allmählich verliert.
Polarisierte Oehring noch vor vier Jahren in Bonn in seinem Stück "Sieben" die Welten der Taubstummen und der Hörenden als unüberwindliche Gegensätze, kommt es in BlauWaldDorf zu einer Annäherung, in der die Darstellungskraft der Gebärdensprache so anschaulich und körperhaft zum Ausdruck kommt, dass sie in ihrer sinnlichen Unmittelbarkeit ähnlich faszinieren kann wie das gesprochene, gesungene oder getanzte Wort...
Diesem Zugewinn an gestischer Klarheit gesellt sich eine überschaubarere dramaturgische Anlage des Librettos. Zwar montiert Oehring auch hier Texte aus verschiedenen Quellen, doch bleibt als roter Faden das Märchen der Kleinen Seejungfrau von Hans Christian Andersen greifbar. Und die Verknüpfungen mit Textausschnitten von Schiller, Morus und Oehring steht dem Verständnis nicht im Wege. Auch nicht die Einschübe musikalisch faszinierend modulierter Teile der Monteverdi-Klage, die die Verfassung einer verlassenen, einsamen, sich selbst aufgeopferten Frau vertiefend reflektieren...
Musikalisch überrascht die ungebrochene Spielfreude der elektronisch verfeinerten Partitur, obwohl sich Oehring weitgehend der üblichen Stilmittel der letzten Jahre bedient. Aber so expressiv dicht und andererseits in Tönen von so abgehobener Verlorenheit, dass sich in diesem Stück die musiktheatralischen Talente des Musikers noch konzentrierter niederschlagen als in seinem letzten Werk Effi Briest. Was er an subtilen klanglichen Raffinessen aus den Monteverdi-Intermezzi zaubert, ist... phänomenal... (Pedro Obiera, Aachener Nachrichten, 28.04.2002)