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Bote & Bock
Die "Chaconne für Oktett" basiert auf einem Barockbaß, der durch seine fallende Chromatik zu einem Idiom geworden ist (und auch bei Brahms erscheint er). Diesem an sich "trockenen" Material werden durch vegetative Prozesse, Verfremdungen und Wucherungen immer andere musikalische Zustände abgewonnen, die Partitur weist z. B. Charakterbezeichnungen wie "entlegen", "rituell" oder "verwehend" auf.
Die kleine Bogenform des Chaconne-Themas wird auch in der klanglichen Entwicklung der Großform nachvollzogen, dazu gehören auch Geräuschhaftes und Entfremdetes.
Der Wechsel der Farben und Formen geschieht fast kaleidoskopartig, indem ständig winzige Bausteine des Haupt- und Nebenthemas umgeordnet werden – aber immer stehen alle Vorgänge im Zusammenhang. Und keinesfalls erscheint die Musik gezwungen, eher schafft die Beschränkung des Materials eine neue Qualität der Freiheit – auch hier dem Vorbild Johannes Brahms’ folgend.
© Thomas Tangler
Zu der Idee seiner Chaconne für Oktett kam Detlev Glanert über einen Umweg. Anlässlich des Brahms-Jahres 1997 arrangierte der Komponist im Auftrag des Hamburger „ensemble acht“ ein Klavierstück von Johannes Brahms, die Variationen über ein Thema von Schumann, für Oktettbesetzung. Die Beschäftigung mit der Brahmsschen Formenstrenge reizte zur Kreativität – und so wandte sich Glanert für die Komposition, mit der ihn das „ensemble acht“ nach dieser Zusammenarbeit beauftragte, einem kaum strenger denkbaren Formmodell zu: der barocken Chaconne.
Glanerts gesamtes Werk durchzieht der Wille, sich schöpferisch mit musikalischen Traditionen auseinanderzusetzen, sie sich anzueignen und gleichzeitig zu hinterfragen. Im Fall des Chaconne-Modells kam noch die Herausforderung dazu, die Diskrepanz zwischen Form und Inhalt so weit wie möglich auszureizen, der Strenge der Form eine um so größere Freiheit im Ausdruck entgegenzusetzen.
Das ursprüngliche Chaconne-Prinzip besteht darin, Variationen über einem immer wiederkehrenden Bassmodell zu entwickeln. Zu Beginn von Glanerts Chaconne erklingt der Bass alleine, der aus einer chromatisch absteigenden Linie besteht. Diese ist jedoch stark abstrahiert und durch Verfremdung und Oktavierung der einzelnen Töne kaum als solche zu erkennen. Das chromatische Modell zieht sich als roter Faden durch das gesamte Stück, erklingt aber nicht immer wörtlich, sondern wird gemäß der barocken Kontrapunkttechniken ständig neuen Verwandlungen unterzogen – es wird gestaucht und gestreckt, tonal verändert und von der Horizontalen in die Vertikale transponiert. Zusätzlich gibt es umspielende Varianten des Materials, etwa in einem markanten Sechzehntelmotiv, das schon zu Beginn in den Bläsern auftaucht.
Charakterbezeichnungen wie „Streng“, „Entlegen“, „Rituell“, „Heulend“, „Steinern“ und „Verwehend“ stellen als abstraktes Szenario das „emotionale Gegenprogramm“ zur formalen Strenge des Werkes dar. Tatsächlich weist die Chaconne scharfe Kontraste auf: Häufig dominieren rhythmische ostinati von trockener Prägnanz, auf die dann wieder wunderbar ausgesungene Kantilenen folgen – etwa in den Bläsern im Teil „Entlegen“. Faszinierende Klangwirkungen entstehen besonders in Passagen, in denen die gegensätzlichen Elemente gleichzeitig auftreten.
In der Methode, die kompositorische Phantasie einem unverrückbaren Modell zugrunde zu legen, sah Glanert den Reiz, sich selbst zu disziplinieren, ohne sich in seiner Freiheit einschränken zu lassen. Dieser scheinbare Widerspruch wird auf überzeugende Weise überwunden, und das Werk ist bei all seiner formalen Strenge von packender Intensität und Ausdruckskraft.
© Verena Scharstein, 2008
"Glanert legt [wie Brahms dem Schluß seiner Haydn-Variationen] seinem Stück eine barocke Form zugrunde. Das alte Muster dient ihm als Rückhalt für ein Kaleidoskop moderner Verfremdungstechniken sowie hetzjagdähnlich vorüberwirbelnder zeitgemäßer Klanggesten." (Wolfgang Schultze, Berliner Morgenpost, 04.03.1997)