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Bote & Bock
Carlo wurde 1997 vom Australian Chamber Orchestra für das Huntington Festival in Auftrag gegeben und ist für 15 Solostreicher, Sampler und Tonband angelegt. Eine Version für Streicher und Live-Chor wurde 2011 veröffentlicht; sie erlebte im November 2011 in Stockholm ihre Erstaufführung durch das Schwedische Kammerorchester und den Eric Ericsons Kammarkör unter Thomas Dausgaard.
Der Titel bezieht sich auf Carlo Gesualdo (1560–1613), Fürst von Venosa und geschätzter Komponist idiosynkratischer und hoch komplexer Vokalmusik im manieristischen Stil, der im Jahre 1590 eines der spektakulärsten Verbrechen in der italienischen Gesellschaft des 16. Jahrhunderts begangen hat, den Mord an seiner eigenen Frau, Maria d’Avolos, und ihrem Liebhaber Don Fabrizio Carafa, Herzog von Andria.
Es verwundert nicht, dass dieser Carlo seitdem eine anrüchige Gestalt geblieben ist. Bis heute zeigen Historiker eine gewisse Unentschlossenheit, wenn es um die wahren Verdienste von Gesualdo als Komponist geht. Es scheint kaum möglich, die Eigenheiten seiner Kompositionen, extrem und überraschend in der Harmonik und komplex in ihrer Struktur, von der Niedertracht des Mörders Gesualdo zu trennen. Ohne Zweifel gab es in seiner Zeit eine große Anzahl von Komponisten, deren Musik die gleiche Aufmerksamkeit verdient hätte wie die Gesualdos, etwa Marenzio oder Luzzaschi, die nicht durch das Niedermetzeln ihrer Gattinnen dem Interesse an ihrer Person zusätzliche Nahrung gegeben haben. Was Gesualdo angeht, so glaube ich sollte man nicht versuchen seine Musik getrennt von seinem Leben und seiner Zeit zu betrachten. Sie sind von Natur aus miteinander verbunden. Die Texte seiner späteren Madrigale – man nimmt an, dass Gesualdo sie selber geschrieben hat – quellen förmlich über vor Anspielungen auf Liebe, Tod, Schuld und Selbstmitleid. Bedenkt man dazu, dass Gesualdos Vokalmusik für mich seit je zu den größten und faszinierendsten Musikerlebnissen überhaupt gehört, dann hat man den Ausgangspunkt für mein Stück.
Carlo beginnt mit reinstem Gesualdo… Man hört den Eingangschoral von Moro lasso, einer seiner berühmtesten Kompositionen, dem sechsten Buch seiner Madrigale entnommen. Aus der tragisch absteigenden chromatischen Linie dieser Eröffnung entfaltet sich eine vorher aufgenommene Stimmencollage, in der sich die verschiedenen Zitate aus dem Madrigal anfangs noch harmonisch ergänzen, dann aber ihre eigenen Wege gehen, manchmal heiterer und schneller, an anderen Stellen langsamer und getragener. Nach und nach beteiligt sich das Orchester an diesem Prozess, indem es zunächst die aufgenommenen Zitate aus Moro lasso durch andere Gesualdo-Motive ersetzt und uns schließlich in Klangbereiche führt, die eher nach zwanzigstem Jahrhundert klingen. Gelegentlich versetzen uns die Stimmen zurück in die Welt Gesualdos, um das Orchester von dort wieder seiner eigenen Interpretation folgen und das Material bearbeiten zu lassen. Auf der Reise durch diese beiden Zeitzonen werden Gesualdos Madrigale schließlich immer mehr reduziert, bis die Texte bloß noch geflüstert werden und nur mehr nervöse Atemgeräusche erklingen. Diese gewinnen an dramatischer Intensität und werden schließlich zu einer Art Widerhall jener verhängnisvollen Nacht in Neapel am 26. Oktober 1590.
Carlo ist Richard Tognetti und dem Australian Chamber Orchestra gewidmet.
© Brett Dean, 1997/2011